{"id":8925,"date":"2022-06-14T09:00:00","date_gmt":"2022-06-14T07:00:00","guid":{"rendered":"urn:uuid:43d72f12-63b3-4066-9c78-80eeb7e5f944"},"modified":"2022-06-10T13:59:47","modified_gmt":"2022-06-10T11:59:47","slug":"care-arbeit","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/blog.fhgr.ch\/blog\/care-arbeit\/","title":{"rendered":"Der gr\u00f6sste Wirtschaftssektor ist die Care-Arbeit. Warum wir uns nicht nicht-k\u00fcmmern k\u00f6nnen."},"content":{"rendered":"\n
Nur Erwerbsarbeit ist richtige und produktive Arbeit? Die, mehrheitlich von Frauen geleistete, Sorgearbeit gilt bestenfalls als \u00abreproduktiv\u00bb und ist meist unsichtbar.<\/strong><\/p>\n\n\n\n\n Nach dem ersten schweizweiten Frauenstreik am 14. Juni 1991 fand 28 Jahre sp\u00e4ter, am 14. Juni 2019<\/a> der zweite landesweite Streik von Frauen statt. Dieser war u. a. eine Reaktion auf die 2018 verabschiedete Revision des Bundesgesetzes \u00fcber die Gleichstellung von Frau und Mann von 1996. Denn diese sah keine Sanktionen bei Nichteinhaltung der Lohngleichheit in Unternehmen, welche Lohngleichheitsanalysen durchf\u00fchren m\u00fcssen, vor. So lautete das Motto vom Frauenstreik 2019 \u00abgleicher Lohn f\u00fcr gleiche Arbeit\u00bb, der Kampf gegen Gewalt an Frauen sowie die Anerkennung der Familien- und Hausarbeit, die eine grosse Bedeutung f\u00fcr die Gesellschaft und deren Wohlstand haben. <\/p>\n\n\n\n\n Care-Arbeit bildet das R\u00fcckgrat der Wirtschaft und Gesellschaft.<\/strong><\/p>\n\n\n\n\n Nach wie vor gibt es in der Schweiz Defizite bei der Gleichstellung von Frauen und M\u00e4nnern in der Familie sowie am Arbeitsplatz; insbesondere bez\u00fcglich Lohngleichheit (durchschnittlich verdienten Frauen im Jahr 2018 etwa 18% weniger als M\u00e4nner<\/a>) und Durchmischung in F\u00fchrungspositionen. Auch Wunsch und Wirklichkeit in Bezug auf die Vereinbarkeit von Erwerbs-, Familien- und Hausarbeit liegen nach wie vor auseinander. Die \u00f6konomische Bedeutung der unbezahlten Familien- und Hausarbeit ist gross: 9,2 Milliarden Stunden sind im Jahr 2016 in der Schweiz unbezahlt gearbeitet worden. Das ist mehr als f\u00fcr bezahlte Arbeit aufgewendet wurde (7,9 Milliarden Stunden). Der totale Wert der unbezahlten Arbeit in der Schweiz bel\u00e4uft sich auf 404 Milliarden Schweizer Franken, wovon rund 246 Milliarden Schweizer Franken (61%) von Frauen geleistet werden. Dieses Volumen der Care-\u00d6konomie ist beachtlich! Dennoch wird diese Arbeit nicht im BIP ausgewiesen.<\/p>\n\n\n\n\n W\u00e4hrend der Pandemie r\u00fcckte die Care-Arbeit in den Vordergrund und bezahlte T\u00e4tigkeiten in Spit\u00e4lern, aber auch unbezahlte Arbeiten zu Hause wurden sichtbarer. Dabei zeigte sich die Fragilit\u00e4t unseres Wirtschaftssystems, denn nicht nur Lieferketten wurden unterbrochen: die Schliessung der Care-Infrastruktur (Schulen, Kitas etc.) hatte zur Folge, dass die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Care-Arbeit stark erschwert war. Pandemiebedingt blieben im Fr\u00fchling 2020 Schulen und Betreuungsinfrastrukturen in der Schweiz eine Zeit lang geschlossen<\/a>, wodurch viele Eltern pl\u00f6tzlich viel mehr Zeit f\u00fcr die Betreuung ihrer Kinder aufwenden mussten. Dies hatte zur Folge, dass viele ihr Erwerbspensum reduzierten. Besonders stark davon betroffen waren Frauen. Zudem zeigte sich, dass je h\u00f6her das Haushaltseinkommen ist, sich die geschlechtsspezifische Rollenteilung umso mehr akzentuierte. Besserqualifizierte waren den Ver\u00e4nderungen in der Vereinbarung von Erwerbs- und Privatleben vermehrt ausgesetzt, da die weggefallene externe Kinderbetreuung sie besonders stark traf. Hingegen entlastete sie auch die h\u00f6here Flexibilit\u00e4t durch die neuen Optionen des Ausweichen ins Homeoffice. F\u00fcr Geringverdienende hat sich aufgrund der zus\u00e4tzlichen Betreuungsaufgaben f\u00fcr Kinder das Gef\u00fchl der \u00dcberlastung besonders verst\u00e4rkt, da finanzielle Existenz\u00e4ngste und oft enge Wohnverh\u00e4ltnisse dazukamen. Erste Studien<\/a> zeigen Belege daf\u00fcr, dass die zus\u00e4tzliche Care-Arbeit w\u00e4hrend der Pandemie weltweit \u00fcberproportional von Frauen \u00fcbernommen wurde. Gleichzeitig hat die Krise das Bewusstsein daf\u00fcr gesch\u00e4rft, dass der Arbeitsmarkt nicht unabh\u00e4ngig von den \u00fcberwiegend in den Haushalten geleisteten Haus- und Familienarbeit modelliert werden kann, sondern die Verkn\u00fcpfungen zwischen den beiden Sektoren stets mitzudenken ist.<\/p>\n\n\n\n\n Die Care-\u00d6konomie ist der vierte und gr\u00f6sste Wirtschaftssektor. Trotzdem ignoriert unser Wirtschaftssystem die Rolle der Hausarbeit und Familie, der Sorgearbeit oder wird diese sogar schlicht als gegeben vorausgesetzt? <\/strong><\/p>\n\n\n\n\n Ein Kind zur Welt bringen, es ern\u00e4hren und grossziehen; saubere Kleidung, Nahrung und Pflege f\u00fcr Erwachsene - das alles geschieht nicht wie von Zauberhand. Es ist Arbeit, welche von einem oder mehreren Menschen verrichtet werden muss. Gerade diese Arbeit wirft andere \u00f6konomische Fragen<\/a> auf als etwa die industrielle G\u00fcterproduktion oder Finanzdienstleistungen. Denn ein Kind kann nicht schneller gepflegt oder aufgezogen werden als dies bei der Optimierung und Erh\u00f6hung der produzierten St\u00fcckzahl bei z. B. Kleidung m\u00f6glich ist. Die \u00d6konomin Mascha Mad\u00f6rin fasst die zeitintensive personenbezogene und haushaltsnahe Arbeit im Sektor der Sorge- und Versorgungswirtschaft zusammen (vgl. Abbildung 1). Ihrer Theorie zufolge umfasst dieser vierte Wirtschaftssektor ein breites Spektrum, welches vom Detailhandel \u00fcber die Gastronomie, der unbezahlten Haus- und Familienarbeit bis hin zum Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen reicht. In diesem Sektor arbeiten Frauen \u00fcberproportional viel unbezahlt und (schlecht) bezahlt. Durchschnittlich mehr als 80% ihrer Arbeitszeit verbringen diese Frauen in der Sorge- und Versorgungswirtschaft.<\/p>\n\n\n\n\n Die Sorge- und Versorgungsleistungen sind jedoch f\u00fcr die gesamte Gesellschaft und Wirtschaftspolitik relevant. In der Schweiz macht dieser vierte Wirtschaftssektor \u00fcber 70% aller geleisteten Arbeit aus und tr\u00e4gt somit erheblich zu Lebensstandard, Wohlstand und Wohlbefinden bei.<\/p>\n\n\n\n\t\n