Die Studierenden des ersten Semesters verbrachten den letzten Tag ihrer Blockwoche, die jeweils den Start des neuen Studienjahrs markiert, in einem der kleinsten Dörfer der Schweiz – in Mulegns. Das Passdorf, umzingelt von Felswänden und Lärchenwäldern, bildet den Ausgangspunkt des Julierpasses im Kanton Graubünden. Sowohl die Studierenden als auch die Dozierenden haben viel gelernt an diesem Tag; über die reiche Geschichte das Ortes sowie die jüngsten Projekte und Veränderungen im Dorf – Wissen und Erlebnisse, die geteilt werden möchten.
Nach der Zugfahrt nach Thusis und der anschließenden kurvigen Busfahrt finden wir uns in einem großen Saal im Post Hotel Löwe in Mulegns wieder. Die Stühle sind in einer einzigen Reihe eng aneinandergestellt und bilden ein Rechteck. Brigitte empfängt uns. Wir alle sitzen mit den alten Holzstühlen auf einem riesigen Teppich. Dieser war, wie wir später erfahren sollten, Teil eines Bühnenbildes einer Inszenierung, die Origen vor einigen Jahren im Zürcher Hauptbahnhof aufgeführt hat. Was wohl früher in diesem Raum geschah?
Eine Geschichtsstunde im ehemaligen Speise-Saal
Mulegns bedeutet Mühle beziehungsweise Mühlen – also Mehrzahl. Früher gab es hier alpine Landwirtschaft. Die Grundnahrungsmittel waren Gerste, Hafer und Roggen sowie Fleisch und Käse. In diesem Bauerndorf herrschte Stille, und damals lebten zwischen 40 und 50 Menschen in Mulegns.
Langsam begannen die Menschen, sich zu bewegen. Tourismus gab es zwar schon immer, jedoch in ganz anderer Form; zuvor handelte es sich vor allem um Pilger- oder Säumerreisen. Doch warum wollten die Menschen überhaupt weg von ihrem Zuhause? Die Industrialisierung war in vollem Gange, was zu einer Verschlechterung der Luftqualität und mangelnder Hygiene führte. Daraus entwickelten sich Trink- und Bäderkuren in den Bergen. Generell sehnten sich die Menschen nach frischer Bergluft – dies konnten sich jedoch nur wohlhabende Personen leisten.
So kam auch immer mehr Bewegung nach Mulegns, und Postkutschenbetriebe machten vermehrt Halt im Dorf. Es entstand eine Wechselstation für die Kutschen, eine sogenannte Fuhrhalterei. Mulegns war ein topografisch wichtiger Punkt und diente als Zwischenstopp für Reisende zwischen dem Unterland und dem Engadin. Hier konnten die Pferde vor dem letzten, strengen, aber langen Anstieg gewechselt werden. Die Fuhrhalterei in Mulegns wurde von einem Brüderpaar gebaut, das bereits Erfahrung im touristischen Bereich hatte, und später – natürlich mit Unterstützung – betrieben. Zu einer Fuhrhalterei gehört ein logistisches System: Es wurden ein Hotel, ein Telegrafenamt, eine Schmiede für die Pferde sowie eine Remise benötigt, in der die Kutschen gewartet und gepflegt werden konnten.
Apropos Fuhrhalterei: Auch in Chur gab es eine solche, an der Kasernenstrasse 6. Diese soll übrigens schon bald kulturell belebt werden. Mehr dazu hier.
Langsam entsteht in meinem Kopf ein Bild. Dieses Bild ist lebhaft, international und bunt. Ich höre verschiedene Sprachen, sehe Menschen, die schön gekleidet sind – lange Kleider, edle Stoffe und üppige Kopfbedeckungen – wie sie Arm in Arm durchs Dorf spazieren. Unterhalb des Dorfes weiden unzählige Pferde. Es ist zwar laut, doch dennoch herrscht eine gewisse Ruhe in der Szene, zumindest bei den Gästen. Bei den Bewohnern von Mulegns, die ausnahmslos etwas für die Reisenden zu tun scheinen, sieht es ganz anders aus – ein ständiges Hin und Her, alles und überall gleichzeitig.
Eine Geschichte in der Geschichte: Mit der Zunahme des Tourismus in Mulegns kam unter anderem Jean Jegher zurück in sein Heimatdorf. Als junger Mann war er nach Bordeaux ausgewandert. Viele junge Bündner verließen damals ihr Zuhause, sei es, weil sie von ihren Eltern weggeschickt wurden oder aus Neugierde. In Bordeaux wurden, wie in vielen Hafenstädten der Welt, Konsumgüter – vor allem Schokolade, Kaffee und Gewürze – angeliefert, die verarbeitet werden mussten. Herr Jegher gründete mehrere Cafés und wurde als Zuckerbäcker in Bordeaux sehr erfolgreich. Ab und zu holte er auch junge Männer aus Mulegns als Arbeitskräfte nach Frankreich. Diese habe er jedoch nicht immer gut behandelt, so heißt es.
Die Geschichte der Bündner Zuckerbäcker – wohl die interessanteste Form der Bündner Migrationsgeschichte – ist noch einmal eine Geschichte für sich. Mit ihrem Können eroberten sie viele europäische Städte, bauten sich regelrechte Monopole auf und kehrten oft, vom Heimweh getrieben, zurück nach Hause. Die Erfahrungen in der Fremde hatten meist auch Einfluss auf die Entwicklung der Bergregionen. Als Jean Jegher 1856, Mitte fünfzig und frühpensioniert, nach Mulegns zurückkehrte, baute er die Weiße Villa – mitten auf die Straße. Dazu später noch mehr.
Der Tourismus in Mulegns erreichte in der Belle Époque seinen Höhepunkt – vor allem, weil Chur 1881 an das internationale Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Damals wurden in dreieinhalb Sommermonaten 22.000 Passagiere registriert, und im Dorf wurden bis zu 120 Pferde gleichzeitig gepflegt. Gut zwanzig Jahre später, mit der Eröffnung der Albulabahn, erlebten Fuhrhalterei und Tourismus in Mulegns ihren Niedergang.
Ein kleiner Exkurs von Brigitte: Um 1900 verbannte die Bündner Regierung das Automobil von den Straßen des gesamten Kantons. Es dauerte ganze 25 Jahre und neun Abstimmungen, bis dieses Verbot aufgehoben wurde. Anlässlich dieses Jubiläums läuft derzeit die Ausstellung «Achtung Auto! Ein Jahrhundert auf den Strassen in Graubünden» im Rhätischen Museum in Chur. Diese kann noch bis zum 23. November 2025 besichtigt werden.
Zurück nach Mulegns: Vor dem Ersten Weltkrieg war der Tourismus aus dem Dorf verschwunden. Ein wenig Armeeverkehr blieb jedoch, auch zur Unterstützung der lokalen Betriebe. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg kam die Familie Willi nach Mulegns und übernahm das Post Hotel Löwe. Die eine Tochter, die eine Ausbildung als Hotelfachfrau absolviert hatte, übernahm im Alter von zwanzig Jahren – zunächst noch mit Unterstützung ihrer Geschwister, später dann allein – den Betrieb. Ganze 60 Jahre lang pflegte und führte Donata Willi das Haus liebevoll, bis es 2018 von der Stiftung Origen übernommen wurde. Mehr über Donata Willi erfahren Sie in folgendem SRF-Beitrag. So kam die Nova Fundaziun Origen nach Mulegns und brachte wieder Schwung in das zuvor schlafende Dorf.
Über die Stiftung Origen im Val Surses
Die Nova Fundaziun Origen ist eine Stiftung, die seit 20 Jahren im Val Surses tätig ist. Intendant der Stiftung ist Giovanni Netzer, der Philosophie, Theologie sowie Kunst- und Theaterwissenschaften in München studiert hat. Mit diesem Hintergrund setzte sich Netzer zum Ziel, Kunst und Kultur zurück in seine Heimat, das Val Surses, zu bringen.
Den Anfang machten Theateraufführungen in Riom, auch ein Dorf im Val Surses. Später kamen der Erhalt und die Wiederbelebung historischer Baudenkmäler hinzu, wie zum Beispiel die Clavadeira – ein umgebauter Stall in Riom, der nun als Bühne genutzt wird – oder die Burg in Riom. Auch dort finden in den Sommermonaten Theateraufführungen statt. Ein Konzept bei den meisten Origen-Aufführungen ist, sofern architektonisch möglich, dasselbe: Die Zuschauer sitzen rundherum, und das Spiel findet in der Mitte statt. So haben alle denselben Blick auf das Stück und werden gleichermaßen stark miteinbezogen. Es gibt keine Vorhänge; das Spiel ist offen.
Noch immer sitzen wir im Post Hotel Löwe und lauschen Brigittes Erzählungen. Brigitte ist Bernerin, ursprünglich Physiotherapeutin und diesen Sommer als Volontärin bei Origen tätig. Auch dieser Raum wird gerade als Theaterbühne genutzt. Ich stelle mir vor, als wäre gerade jetzt, in diesem Moment, ein Spiel im Gange – die Schauspieler:innen nur wenige Meter, nein, Zentimeter von mir entfernt. Ich höre sie atmen und sehe sie schwitzen. Das ist sehr intim. Zu intim? Es ist, als würde diese unsichtbare Wand, die sonst zwischen Bühne und Zuschauerraum steht, vollständig verschwinden. Diese Intensität lässt keine Distanz zu.
Origen ist nicht die einzige Organisation, die solche Aufführungen produziert. Dieser Wunsch nach Direktheit und Authentizität ist nicht nur in der Bühnenwelt spürbar, sondern scheint momentan generell sehr präsent zu sein. Diese Suche nach Momenten, die ungeschönt und unmittelbar sind, in denen man spürt, dass etwas echt ist – sei es im Theater, in der Kunst oder im Alltag.
2018, beim Kauf des Post Hotels Löwe, kam also Mulegns dazu. Das Hotel wurde renoviert. Alles Historische blieb erhalten, was nicht mehr historisch war, wurde mit neuen Elementen kombiniert. Betrachtet man die neuen Farben im Haus und vergleicht sie mit den historischen Elementen, findet man jede Farbe – wenn auch in einer anderen Nuance – wieder. Martin Leuthold, ehemaliger Chefdesigner von Jakob Schläpfer in St. Gallen, gestaltet seit vielen Jahren die Ausstattung der Origen-Gebäude – Teppiche, Stoffe, Vorhänge. Daneben entwirft er auch die Garderobe der Schauspieler:innen. Oft arbeitet er mit bestehenden Mustern oder Geschichten, die er auf eigene Art interpretiert und transformiert. So wird aus einer Stuckatur ein Teppich oder aus einer alten Tapete ein Seidenhalstuch.
Auch die wunderschön rot leuchtenden Geranien, welche die Terrasse des Hotels Löwe schmücken und die noch immer von Donata Willi stammen, wurden im Inneren des Gebäudes gestalterisch wieder aufgenommen – zum Beispiel in Form eines Teppichs. So werden die Geschichte und die Arbeit von Donata Willi geehrt und weitererzählt.
Mit Mulegns kam auch die Weiße Villa zu Origen. Wir erinnern uns? Die Weiße Villa gehörte Herrn Jean Jegher, der aus Bordeaux zurückgekehrt war. Seit dem Bau der Villa war – und wurde später zunehmend – die Durchfahrt zwischen der Villa und dem gegenüberliegenden Gebäude, das übrigens ebenfalls einer Zuckerbäckerfamilie gehörte, problematisch. Es kam zu halbstündigen Blockaden, und beide Häuser wurden immer wieder beschädigt. Aufgrund der großen historischen Bedeutung der Zuckerbäckerei wurde beschlossen, die Weiße Villa zu retten und sie um acht Meter zu versetzen. Das Gebäude erhielt einen armierten Betonkranz, der am neuen Standort in das betonierte Fundament des Hauses integriert wurde. Hier können Sie sich das Video über die Verschiebung ansehen.
Was bringt die Zukunft? Die Weiße Villa wird Ende 2026 umgebaut – zu einem Zuckerbäckermuseum, einem Café und einer Bäckerei. So wird die Geschichte der Zuckerbäckerei wieder zum Leben erweckt. Bereits 2022 wurde der alte Holzbackofen in der Weißen Villa wieder in Betrieb genommen, und frisches Brot wurde an Passanten verkauft. Wer vollkommen in Origen und deren Projekte eintauchen möchte, besucht am besten das Onlinearchiv.
Tor Alva – Der Weisse Turm
Der Weisse Turm von Mulegns – Begehbare Installation, Aussichtsturm, intimer Konzertraum, Ort der Kulturvermittlung und vor allem eine Hommage an die Bündner Zuckerbäcker: Die Robotik-Technik mit Beton spiegelt die Spritzsacktechnik in der Patisserie wider. Das mit dreißig Metern momentan höchste digital gedruckte Bauwerk der Welt wurde im Frühling dieses Jahres eröffnet. Der Sockel des Turms ist Teil der ehemaligen Fuhrhalterei in Mulegns. Im Winter wird der Trum mit einer Membran abgedeckt, sodass er auch in der kalten Jahreszeit begangen und bespielt werden kann.
Der Drucker ist in der Druckhöhe auf zwei Meter begrenzt. Eine Stütze besteht daher aus zwei bis drei Elementen. Gedruckt wurde an der ETH Zürich. Für das Drucken einer einzelnen Stütze benötigt der Drucker etwa acht bis achteinhalb Stunden. Somit dauerte der gesamte Druck des Weißen Turms rund 900 Stunden. Die stehenden Elemente wurden in dieser Schichttechnik gedruckt. Der Fuß und das Kapitell wurden aus Stabilitätsgründen anders hergestellt: Sie wurden mithilfe einer Schalung ausgegossen.
Nach dem Druck wurden die einzelnen Teile nach Savognin transportiert, wo sie zusammengesetzt wurden. Die Komponenten – bestehend aus Fuß, V-Element und Kapitell – wurden anschließend auf Lastwagen verladen und nach Mulegns gebracht. Dort wurden sie mit einem Kran aufgestellt und geschossweise verschraubt. Dank der Präzision des 3D-Drucks passten alle Teile exakt zusammen. Vor Ort wurden auch lokale Unternehmen und Handwerker:innen miteinbezogen. Dies gilt nicht nur für den Weißen Turm, sondern grundsätzlich für alle Projekte von Origen.
In der ehemaligen Remise befindet sich momentan das Zentrum für digitale Bautechnologien. Im unteren Teil waren früher die Pferde untergebracht, im oberen die Kutschen eingestellt. Die Räume sollen in Zukunft für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt werden. Die aktuelle Ausstellung zeigt den digitalen Bauprozess des Weißen Turms anhand von Druckbeispielen. Mehr über die Forschung rund um das Druckverfahren erfahren Sie hier.
Die Studierenden verteilen sich um mich herum und im ganzen Dorf. Sie skizzieren Dinge, die ihnen gefallen – von dem Detail eines Teppichs, über eine Gesamtansicht vom Dorf bis hin zu Donata Willis Geranien. Bevor wir aufbrechen, um zurück nach Chur zu fahren, schauen wir uns die Skizzen gemeinsam an. Entstanden ist ein Sammelsurium von Eindrücken, Wahrnehmungen und Persönlichkeiten. Die Wirkung, die eine Skizze haben kann, wird manchmal, mit den ganzen digitalen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, ganz vergessen. Skizzen sind mehr als nur schnelle Zeichnungen – sie sind Ausdruck des Sehens und Verstehens. Anders als digitale Entwürfe fangen sie die Stimmung eines Moments ein, spiegeln die Handschrift und das Gefühl des Zeichnenden wider.
Getestet wurde auch das Drucken mit recyceltem PET. Ein großer Unterschied dabei ist, dass durch die Düse auch Luft hineingeblasen wird. Dadurch entstehen in kurzer Zeit große Objekte. Zurzeit können diese aber nur zu dekorativen Zwecken eingesetzt werden. ETH-Studierende und Origen haben mit solchen PET-Objekten die Innenausstattung der Gelateria gestaltet.
Dank der 3D-Druck-Technologie konnten 50% Beton eingespart werden. Durch eine Abstimmung in der Gemeinde wurde die Umplanung der Bauzone für fünf Jahre ermöglicht. Ohne dieses Ja könnte der Turm heute gar nicht hier stehen. Das bedeutet aber auch, dass er in fünf Jahren wieder zurückgebaut werden muss. Aus diesem Grund ist er elementar aufgebaut, dass ein effizienter Auf- und Abbau möglich ist. Momentan ist die Idee, dass der Turm – auch weil die Geschichte der Zuckerbäcker im ganzen Kanton verteilt ist – nach diesen fünf Jahren an einen neuen Ort wandert.
Die Führung und unser Tag in Mulegns endet in der Gelateria mit einem Gelato. Schon verrückt, wenn man darüber nachdenkt: Über mehr als ein Jahrhundert interessierte sich kaum jemand für dieses Dorf am Fuße des Julierpasses. Es schlummerte einfach vor sich hin – und nun kommen ganze Reisebusse voller kulturinteressierter Menschen, die alles aufsaugen, was hier passiert und je passiert ist – mich eingeschlossen. Dass Origen die Bewohner:innen und lokalen Unternehmen einbezieht und dies einen wirklich wichtigen Teil ihres Weges ausmacht, ist schön zu hören und wohl auch unausweichlich. Gute Dinge entstehen nicht über Nacht. Sie brauchen Zeit – und vor allem Wurzeln, damit sie bleiben. Ich bin sehr gespannt, womit uns Origen, was übrigens Ursprung bedeutet, in Zukunft noch überraschen wird.
Mulegns und dessen Geschichte wurde den Studierenden des ersten Semesters, in Begleitung von den Dozierenden Simona Capaul und Conradin Weder, von Brigitte Marthler, Voluntari, und Monika Zaharievska, Architektin, gezeigt. Vielen herzlichen Dank! Die Führung in Mulegns, die wir wärmstens weiterempfehlen, können Sie direkt über Origen buchen.
Mehr zum Thema: Blockwoche – Auf den Spuren von Trun Cultura - Blog - Institut Bauen im alpinen Raum
Autorin
Barbara Truog ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR). Sie hat die Studierenden auf ihrer Exkursion nach Mulegns begleitet. Alle in dem Artikel verwendeten Fotografien stammen von ihr.