Bestimmt Künstliche Intelligenz (KI) künftig, was im Bauwesen ästhetisch ansprechend ist? Nein! Aber Künstliche Intelligenz wird in einigen Jahren erkennen können, wie stark ein Neubau die typischen und identitätsstiftenden Merkmale und Charakteristiken eines spezifischen, ortsbildprägenden Dorfzentrums aufzugreifen und weiterzuentwickeln vermag. Entscheiden werden auch weiterhin Baubehörden und die Bevölkerung.
Die hohe Bautätigkeit der letzten Jahrzehnte führte zu einer drastischen Veränderung unserer Umwelt. Der Soziologe Lucius Burckhardt, der Schriftsteller und Architekt Max Frisch und der Publizist Markus Kutter haben in ihrem Buch «achtung: die Schweiz» schon im Jahr 1955 vor dem ungebremsten Wachstum von Siedlungen in der Schweiz gewarnt. Knapp 70 Jahre später, fördert die Revision des Raumplanungsgesetzes 2014 (RPG 1) die Verdichtung. Zumindest ein Teil der Problematik wurde so entschärft. Trotzdem bleibt die Herausforderung, die Baukultur in den bestehenden Siedlungen zu erhalten und weiterzuentwickeln – sie wird sogar grösser, da das RPG 1 das Wachstum auf bereits bebaute Gebiete lenkt. Gemeinden stehen also immer öfter vor der Frage: Wie soll unser Ort in 30 Jahren aussehen?
Das Baumemorandum dient als Kommunikationsinstrument und Gestaltungsleitfaden, der gestalterische Ordnungsprinzipien und räumliche Charakteristika in den Fokus stellt – nicht detaillierte Vorschriften – und so ein sensibles Weiterbauen im Bestand ermöglicht.
Nachhaltige Ortsbildgestaltung dank Baumemorandum
Seit 15 Jahren setzt sich das Forschungsfeld Siedlungsplanung und Ortsbildgestaltung am Institut für Bauen im alpinen Raum der FH Graubünden für die Pflege, den Schutz und die Weiterentwicklung von lokaler Baukultur ein. In diesem Zusammenhang wurde das Baumemorandum entwickelt. Zum einen dient es als Kommunikationsinstrument für die lokale Baukultur und zum anderen als Gestaltungsleitfaden für die Weiterentwicklung von Dörfern und Städten. Es stehen nicht detaillierte Vorschriften und Vorgaben im Vordergrund, sondern gestalterische Ordnungsprinzipien und räumliche Charakteristika.
Das Baumemorandum analysiert die Siedlungen, sucht nach sich wiederholenden Grundprinzipien und beschreibt die typischen Merkmale sowie die ortsspezifischen Eigenheiten und Werte eines Ortes. Diese Analyse basiert auf der Erkenntnis, dass für die Weiterentwicklung und die Schönheitswahrnehmung eines Ortes bestehende gestalterische Merkmale von Bedeutung sind. Durch diese Aspekte wird ein sensibles Weiterbauen im Bestand sichergestellt und führt langfristig zu einer Verwandtschaft zwischen bestehenden Häusern und Neubauten. Das Baumemorandum dient als Ergänzung zur baurechtlichen Ebene und bildet eine Basis für die gestalterische Lenkung von Bauaktivitäten im Hinblick auf das Ortsbild. Zur Anwendung kommt das Baumemorandum mittlerweile in zahlreichen Gemeinden.
Die digitale Zukunft der Baukultur: KI-Analyse und 3D-Modellierung
Derzeit steht das Baumemorandum den Gemeinden als gebundene Broschüre zur Verfügung und ist ein einfaches und verständliches Kommunikationsmittel für Fachleute und Laien. Ihre Schwäche liegt in der Auffindbarkeit der Informationen und in der Effizienz der Erarbeitung und Nutzung. Im heutigen Arbeitsalltag von Planenden werden die Grundlageninformationen für Bauprojekte aus Geoinformationsportalen (GIS) bezogen. Naheliegend ist, das Baumemorandum in eben diese GIS-Portale einzubinden.
Im Rahmen des Forschungsprojektes «DAVOS: Digitale Analyse von Orts- und Stadtbildern» – gefördert von Innosuisse, der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung – erarbeiten das Institut für Bauen im alpinen Raum und das Institut für Data Analysis, Artificial Intelligence, Visualization und Simulation der FH Graubünden zusammen mit der Vermessungsfirma Donatsch + Partner AG, dem Kartenspezialisten und Softwareunternehmen GEOINFO Applications AG und den Gemeinden Davos und Teufen, ein solches digitales Baumemorandum. «Bauwillige, Planende und Behörden verfügen dadurch über ein Instrument, mit dem Bauprojekte optimal mit dem Dorfcharakter vereint werden können, sodass sich das einzigartige Dorf Monstein mit viel Rücksicht auf seine Walsertradition zukunftsgewandt weiterentwickeln kann», sagt der Davoser Landammann Philipp Wilhelm.
Automatisierung und KI als Schlüssel für die Zukunft
In dem laufenden Forschungsprojekt wird ein hoher Grad an Automation angestrebt. Kombiniert mit der nahtlosen Einbindung in GIS-Plattformen, wird das digitale Baumemorandum für die Bevölkerung zugänglich gemacht. Eine Künstliche Intelligenz (KI) übernimmt die automatisierte Erfassung der Ordnungsprinzipien. Die Resultate werden direkt ins GIS geladen und dort dreidimensional dargestellt, sodass Planerinnen und Planer frühzeitig eigenständig prüfen können, wie gut ein Bauprojekt zur Umgebung passt.
Es ist die Stärke moderner Data-Science-Verfahren (Neuronale Netze oder Deep Learning) Schemata und Muster zu erkennen, wie sie im Baumemorandum zurzeit von Architektinnen und Architekten selbst analysiert werden. Grundlage für das Training, die Analyse und die Implementierung in das GIS bildet die exakte fotogrammetrische Erfassung einer Siedlung respektive der einzelnen Häuser. Die KI lernt aus einem bestehenden Datenpool von Ansichten, der von Fachleuten erarbeitetet wurde, um Gestaltungsmerkmale wie Fenster, Türen und Dächer zu erkennen.
Diese Automatisierung wird die bislang besonders aufwändige Zeichnungsarbeit von Architektinnen und Architekten ersetzen.
In einem zweiten Schritt wird – basierend auf den gefunden Gestaltungsmerkmalen – der KI antrainiert bestimmte gestalterische Ordnungsprinzipien wie Rhythmen und Symmetrien zu finden. Diese Automatisierung wird die bislang besonders aufwändige Zeichnungsarbeit von Architektinnen und Architekten ersetzen. Das Ergebnis einer KI-Analyse wird in einem standardisierten Datenformat ausgegeben und enthält 3D-Konturen und Flächen mit genauen Koordinaten.
Die KI wird im Projektverlauf in eine Software eingebunden, die über eine Schnittstelle direkt mit einem beispielhaften GIS verknüpft wird. Dadurch werden die Daten im GIS gespeichert und den jeweils analysierten Gebäuden zugeordnet. Durch das Projekt wird erstmals ein Prozess zur Analyse von Fassaden basierend auf fotogrammetrischen Aufnahmen erarbeitet und eine direkte Anbindung an ein GIS geschaffen. Das Forschungsprojekt wird die Ergebnisse des Baumemorandums einer breiten Schicht an Nutzerinnen und Nutzer zugänglich machen und die Darstellung im 3D-Modell vereinfacht die Auseinandersetzung mit der lokalen Baukultur.
Hier mehr über das Baumemorandum erfahren.
Instrument für eine zukunftsfähige Baukultur
Nach Projektabschluss besteht grosses Potenzial, das Produkt in der Privatwirtschaft zu etablieren und die Forschung daran fortzusetzen. Schweizweit gibt es eine Fülle von Gemeinden mit sensiblen Ortsbildern – allein in Graubünden befinden sich 104 ISOS-Ortsbilder und 242 kantonal schützenswerte Ortsbilder. Entsprechend besteht ein öffentliches Interesse am Schutz der bestehenden räumlichen Qualitäten und deren sorgfältiger und umsichtiger Weiterentwicklung.
Denn der Verlust von Identität sowie sozialen Strukturen haben eine Entwurzelung der Bewohnerinnen und Bewohner zur Folge und führen zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität. Insbesondere in strukturschwächeren Siedlungsräumen verstärkt dies die Abwanderung. Lebenswerte, beliebte Städte und Dörfer entstehen nur, wenn hohe Qualitätsansprüche an alle Aspekte des Bauens gestellt werden. Mit den beschriebenen Möglichkeiten leistet das digitale Baumemorandum einen grossen Beitrag zum nachhaltigen Umgang mit der vorhandenen Baukultur.
KI kann dabei helfen, die eigene Baukultur besser zu erkennen und respektvoll weiterzuentwickeln.
Gemeinden, die ihre lokale Baukultur aktiv mitgestalten, werden in Zukunft vermehrt mit KI-Ergebnissen konfrontiert. Trotzdem müssen Entscheidungen zur Innenentwicklung weiterhin gut überlegt sein und brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Es ist deshalb wichtig, baukulturelle Anliegen für viele Menschen verständlich und zugänglich zu machen. KI kann dabei helfen, die eigene Baukultur besser zu erkennen und respektvoll weiterzuentwickeln.
Mehr zum Thema: Baukultur und Tourismus – zwischen Authentizität und Herausforderung - Blog - Institut Bauen im alpinen Raum
Autor:innen
Oliver Hänni ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Sandra Bühler-Krebs ist Professorin für Architektur und Ortsbildentwicklung am Institut für Bauen im alpinen Raum an der Fachhochschule Graubünden.