Dörfer und Gebäude bezeugen unsere Lebensweisen – und hinterlassen Spuren in unseren Erinnerungen. Besonders in Graubünden ist die Siedlungsarchitektur durch ein Miteinander und ein Nebeneinander verschiedenster Gebäude geprägt; ein heterogenes Ganzes. In den daraus gebildeten Innen- und Aussenräumen hat sich schon vieles abgespielt. Wussten Sie, dass beispielsweise Alberto Giacometti die Evangelische Mittelschule (EMS) Schiers besuchte?
Von der Schulzeit Giacometti's lassen sich, abgesehen von einer Leihgabe eines Bildes einer Schülerverbindung, in den Räumen der EMS Schiers heute keine Spuren mehr finden. Dennoch lässt sich am Ort seine Schulzeit nachempfinden.
Aus dem Wunsch, Waisenkindern Lesen und Rechnen beizubringen, wuchs eine Bildungsinstitution von überregionaler Bedeutung.
Von der Dorfschule zur Mittelschule
Die EMS Schiers – angegliedert an den alten Dorfkern – ist eine Bildungsinstitution von überregionaler Bedeutung. Gegründet wurde sie 1837 vom Dorfpfarrer Peter Flury. Bei seiner Ankunft in Schiers war er erschüttert von der Armut und den vielen Waisenkinder, denen es an Erziehung und Bildung fehlte. Das Bestreben diesen Kindern Lesen und Rechnen beibringen zu wollen ist der Beginn der heutigen EMS Schiers. Von einer Dorfschule entwickelte sie sich zur Mittelschule mit Hochschulreife sowie zum Internat mit Schülerinnen und Schülern aus der ganzen Schweiz. So fand auch Alberto Giacometti seinen Weg von Stampa im Bergell nach Schiers, wo sein künstlerisches Talent mit einem kleinen Atelier gefördert wurde.
Diese Tradition auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen, hat sich bis heute gehalten. Für eine ganzheitliche Entwicklung werden auf dem Campus verschiedene ausserschulische Aktivitäten und Workshops angeboten. In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Nachfrage nach Internatsschulen verändert. So hat die EMS Schiers den Internatsbetrieb im Jahr 2015 eingestellt. Die Räume sind heute unternutzt. Durch den Wandel vom ursprünglichen Internat zu einem zeitgemässen Gymnasium haben die zahlreichen, in Grösse und Nutzung völlig unterschiedlichen Räumlichkeiten in den vergangenen Jahrzehnten einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren. Gleichzeitig wachsen, aufgrund neuer Anforderungen und Bedürfnisse, sowohl der Raumbedarf als auch das Bedürfnis nach einem effizienteren Belegungskonzept des Gymnasiums.
Ideen für die Zukunft der EMS Schiers
Vor diesem Hintergrund hat die EMS Schiers erste Nutzungsbedürfnisse in einem konkreten Raumprogramm formuliert. Zusammen mit dem Institut für Bauen im alpinen Raum der Fachhochschule Graubünden entstanden unterschiedliche Möglichkeiten, die EMS Schiers von Morgen zu gestalten. Die Studierenden im Fachbereich Architektur der FH Graubünden erarbeiteten diverse bauliche Änderungsvorschläge. Mit Plänen, Berechnungen und Visualisierungen können diese unterschiedlichen Varianten nun miteinander verglichen und diskutiert werden. Durch die Zusammenarbeit erhielten die Studierenden die Gelegenheit, eine praxisnahe Abschlussarbeit für einen realen Auftraggeber zu erarbeiten. Gleichzeitig bieten die Arbeiten der EMS Schiers einen breiten Fächer an Denkanstössen zur baulichen Weiterentwicklung der Schulanlage.
Ein starkes architektonisches Konzept für die EMS Schiers bedeutet, die Identität des Ortes und der Schule nicht zu überschreiben, sondern weiterzuentwickeln und in die Zukunft überführen.
Mirco Blöchlinger
Die zentrale Frage der Aufgabenstellung war, wie viel der bestehenden, teils denkmalgeschützten, Bausubstanz durch raffinierte Umnutzungen und leichten Anpassungen weiterhin sinnvoll genutzt werden kann – und welcher Mehrwert durch einen Ersatzneubau geschaffen werden müsste, um die benötigte graue Energie und das Verschwinden der Erinnerungen an den Altbau zu rechtfertigen. Folglich sollten die Projekte nicht einfach eine Summe zusätzlicher Räume darstellen, die zum Bestand hinzugefügt werden. Sie sollten durch Umnutzungen, Verlagerungen und Abtausche innerhalb der bestehenden Räume, ein effizientes Belegungs- und Raumkonzept mit benötigten weiteren Räumlichkeiten aufzeigen.
Die ausgearbeiteten Projekte der Studierenden sind eine grosse Bereicherung und zeigen eine eindrückliche Bandbreite an verschiedenen und teilweise unerwarteten Möglichkeiten zwischen «Erhalten», «Erweitern» und «Ersetzen» auf. Wer hätte beispielsweise daran gedacht, dass die Mensa aufgestockt werden könnte? Der Fussabdruck der Bauten bliebe bestehen und das heute etwas abseitsstehende Fluryhaus würde Teil der Gesamtanlage. Ganz elegant könnte in einer anderen Variante ein dezenter Anbau die bestehende Gebäudestruktur weiterstricken und die benötigten grossen Schulräume sowie einen Mehrzwecksaal beinhalten. Die Anbauten würden sich bewusst in zeitgemässer Konstruktions- und Gestaltungsweise zeigen. Gleichzeitig bliebe die Anmut der Schulanlage weiter bestehen.
Ein starkes architektonisches Konzept für die EMS Schiers bedeutet, die Identität des Ortes und der Schule nicht zu überschreiben, sondern weiterzuentwickeln und in die Zukunft überführen – auf dass sich ein neues Talent wie Alberto Giacometti in den Räumen der EMS Schiers entwickeln kann.
Die verschiedenen Projekte der Studierenden stehen der Schulleitung und dem Schulverein für die weitere Planung der Schulentwicklung zur Verfügung. Hier finden Sie alle Projekte online.
Einmal im Monat beleuchtet die Fachhochschule Graubünden im Bündner Tagblatt
Aspekte rund um das Thema Baukultur.
Mehr zum Thema: Mehr lernen auf gleichem Fussabdruck – Einblick in ein Abschlussprojekt - Blog - Institut Bauen im alpinen Raum
Autor
Mirco Blöchlinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bauen im alpinen Raum der Fachhochschule Graubünden.