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Die Rolle der un­ter­neh­me­ri­schen Sorg­falts­pflich­ten für die Er­näh­rungs­si­cher­heit in La­tein­ame­ri­ka – ein An­wen­dungs­bei­spiel

Lateinamerika gehört zu den größten Exportregionen weltweit und profitiert von den Einnahmen und geschaffenen Arbeitsplätzen. Die Zahl der Hungernden hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich verringert, steigt nun aber unter anderem auch beschleunigt durch die Corona-Pandemie wieder an. Preisschwankung und Spekulation gehören zu den Treibern für den Hunger. [1]  Immer noch stehen Landverteilung- und Landnutzungskonflikte sowie mangelhafte Arbeitsbedingungen im Fokus. Welche Rolle spielt also das unternehmerische export-orientierte Handeln für die Ernährungssicherheit? Das Projekt um den Food Security Standard (FSS) hat die Ernährungssicherheit auf lateinamerikanischen Plantagen überprüft und gezeigt: engagierte Unternehmen können und sollten einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit leisten.


Das Verhältnis von Unternehmen zu Menschenrechten ist spätestens seit 2011 klar von den UN-Leitprinzipien für Unternehmen und Menschenrechte definiert: schützen, respektieren und Abhilfe schaffen, sind ebenso Rahmenwerk für unternehmerisches Handeln. Unternehmen haben als Teil der Gesellschaft ihren Beitrag zu leisten, indem sie Gesetze achten und Menschenrechte respektieren. Auch die Verbraucher fordern zunehmend, dass Unternehmen ihrer Verantwortung nachkommen. Ein Trend, der in einer Vielzahl von Gesetzesinitiativen mündet, die einen rechtlich verbindlichen Rahmen auf Länder- und auch EU-Ebene fordern. Unternehmen müssen sich nun mit ihrer Lieferkette beschäftigen, denn Menschenrechtsverletzungen passieren meist am Anfang der Kette, beim Anbau der Rohstoffe und den ersten Verarbeitungsschritten. Nachhaltigkeitszertifizierungen sind ein gängiges Mittel, um Mindeststandards in der landwirtschaftlichen Produktion umzusetzen, allerdings haben viele der Zertifizierungssysteme unterschiedliche Schwerpunkte und eine divergierende Ausgestaltung sozialer Kriterien. Der Food Security Standard (FSS), der von Welthungerhilfe, WWF und dem Zentrum für Entwicklungsforschung der Uni Bonn entwickelt wurde, bietet hier einen systemischen Ansatz, der alle Menschenrechte berücksichtigt, so wie es die UN-Leitprinzipien vorsehen. Als Zusatzmodul für bestehende Zertifizierungssysteme kann er leicht mitüberprüft werden und bietet Unternehmen so die Möglichkeit verbleibende menschenrechtliche Risiken zu adressieren. Denn Hunger in der Export-Produktion ist vor allem auch eins: ein Zeichen, dass mit der Lieferkette etwas nicht stimmt und von echter Nachhaltigkeit in all ihren Facetten nicht die Rede sein kann.


Während der FSS-Entwicklungsphase wurden die Kriterien unter anderem auch in Guatemala und Bolivien auf Plantagen getestet. Die Bilderstrecke zeigt am Beispiel von Bolivien wie ein FSS-Audit in der Praxis aussieht, um das Recht auf Nahrung in landwirtschaftlichen Lieferketten zu überprüfen.


Prüfung des Ernährungssicherheitsstandards FSS auf Plantagen - das Beispiel Bolivien und ISCC

Im November 2018 wurde der FSS in der bolivianischen Provinz Santa Cruz im Rahmen eines ISCC-Nachhaltigkeitsaudits der Zuckerfabrik Aguaí getestet. Die Hungersituation in Bolivien ist gemäß des Welthungerindex moderat. Die Ernährungssicherheit hat sich in den letzten zehn Jahren stark verbessert, aber in einigen Regionen gibt es aufgrund von Faktoren wie Wasserknappheit und Landkonflikten immer noch Schwierigkeiten. Zu den sozialen Problemen in den Anbaugebieten gehören das prekäre Einkommen der Saisonarbeiter*innen, schlechte Bedingungen in ihren Unterkünften, Kinderarbeit und fehlende Arbeitsverträge. All diese Faktoren werden vom FSS berücksichtigt, da sie Teil des Rechts auf Nahrung sind.

Aguaí wird von mittel- bis sehr großen Agrarbetrieben (zwischen 800 und 15.000 ha) beliefert. Viele von ihnen sind hoch mechanisiert. Die Verwaltungsstrukturen und die vorhandene Infrastruktur sind dabei ganz unterschiedlich.

Zu Beginn des Audits schaut sich die Auditor*in das Einflussgebiet des Unternehmens auf der Karte an und lässt sich zeigen, wo die Betriebe und angrenzenden Dörfer liegen. Dabei wird u.a. geschaut auf welchen Bereich sich die Unternehmensaktivitäten negativ auswirken oder gibt es offene Landrechtsstreitigkeiten geben könnte. Das verschafft ihr einen guten Überblick, denn das Audit beinhaltet auch Interviews mit Vertretern des öffentlichen Lebens wie z.B. Lehrer*innen, Krankenpfleger*innen, die ihr wertvolle Informationen zur Ernährungslage geben können.

Gemeinsam mit den Unternehmensvertreter*innen werden zunächst die Dokumente gesichtet. Dazu gehören u.a. Arbeitsverträge, Genehmigungen zu Land- und Wasserrechten aber auch dokumentierte Prozesse über Trainings und Konsultationsverfahren.

Was haben Pflanzenschutzmittel mit dem Recht auf Nahrung zu tun? Ganz klar, gute Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger Teil davon, denn eine falsche Bedienung oder Ausrüstung in der Arbeit mit Pflanzenschutzmitteln kann gesundheitliche Folgen haben. Ein kranker Organismus kann Nährstoffe schlechter verwerten und krankheitsbedingte Arbeitsausfälle können sich direkt auf das Einkommen auswirken. Schutzkleidung und entsprechende Schulungen für Mitarbeiter werden vom zertifizierten Betrieb erwartet.

Wenn es Unterkünfte für die Mitarbeiter und ihre Familien auf dem Betrieb gibt, sollen diese angemessen und sauber sein. Das gilt auch für kleinbäuerliche Betriebe, für die eine entsprechende Schulung durchgeführt werden soll, damit sie die Anforderungen nach besten Möglichkeiten umsetzen können.

Dasselbe gilt auch für die Sanitäranlagen. Diese müssen gut erreichbar und sauber sein. Vorrichtungen zum Händewaschen sind besonders wichtig für die betriebliche und persönliche Hygiene.

Während der Interviews mit den Mitarbeitern und Zulieferern werden die Angaben aus den Unterlagen nochmals überprüft. Zu den Fragen gehören beispielsweise, ob jederzeit der Zugang zu Essen und Trinkwasser während der Arbeit gegeben ist, die Pausenzeiten eingehalten werden, sich Lebensmittelpreise im Laufe des Jahres verändert haben und Betroffene auf Essen verzichten mussten. Bei temporären Angestellten stellt sich zudem die Frage, ob die Lebensmittelversorgung nach Ende der Vertragslaufzeit gefährdet sein kann.

Der Betrieb soll den Zugang zu ausreichend angemessener Nahrung für alle Menschen, die für ihn arbeiten, verbessern. In großen Betrieben wie Aguaí kann das eine eigene Kantine sein.

Sichere und saubere Räumlichkeiten für Pausen müssen ebenfalls zur Verfügung stehen. Auch die Länge der Pausen entsprechend den lokalen Bedingungen wie z.B. großer Hitze werden überprüft.

Wenn die Menschen keine Möglichkeit haben ihr eigenes Essen mitzubringen, kann auch ein kleiner Laden auf dem Betrieb den Zugang verbessern. Während der Interviews wird hier dann auch nochmal das Preisniveau abgefragt.

Das Pilotaudit in Bolivien hat gezeigt, dass der FSS in Nachhaltigkeitsaudits gut integriert werden kann. Zudem wurde deutlich, dass große und mittelgroße Agrarbetriebe wie Aguaí in der Lage sind, den FSS mit akzeptablen zusätzlichen Anstrengungen zu erfüllen. Während der Standard die Richtung vorgibt, entwickeln Unternehmen gemeinsam mit Gemeinden, Behörden und Mitarbeitern kreative Wege lokale Entwicklung voranzutreiben. Und fest steht: wer seine Lieferkette gut kennt ist klar im Vorteil, kann sich in lokale Wertschöpfungsprozesse einbringen und Märkte zukunftsfähig machen. So werden Unternehmen zunehmend zu neuen Akteuren in Menschenrechtsdialogen, bauen Kompetenzen auf und zeigen echte Verantwortung im Erreichen der Nachhaltigen Entwicklungsziele.