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Vier Funk­tio­nen, vier Räume

Die Autoren haben im nur gedruckt erscheinenden SAB-Info einen Text veröffentlicht, der hiermit mit freundlicher Genehmigung der Redaktion im vollen Wortlaut veröffentlicht wird. Schuldt, Karsten; Mumenthaler, Rudolf: Vier Funktionen, vier Räume. In: SAB-Info 36 (2015), Heft 3, S.18-19.

Das Four-Spaces-Modell prägt die Diskussion um die Zukunft Öffentlicher Bibliotheken in Skandinavien. Eignet sich dieses Modell auch für die Schweiz?

von Karsten Schuldt, Rudolf Mumenthaler

Das dänische Kulturministerium liess 2010 ein Modell für die Funktionen Öffentlicher Bibliotheken in der heutigen Zeit entwickeln. Der Auftrag dazu kam zu einer Zeit, in der die dänische Gesellschaft sich schnell und grundlegend veränderte. Zudem wurde kurz zuvor in einer Strukturreform die Zahl der Gemeinden und damit auch die der vorgeschriebenen Gemeindebibliotheken reduziert.

Das Modell wurde seitdem als Basis für die Neuausrichtung von Bibliotheken, für Debatten über deren Zukunft und für die Planung von Forschungsprojekten genutzt. Obwohl sich die Herausforderungen an dänische und schweizerische Bibliotheken in Vielem gleichen, wird es hierzulande bislang kaum referiert. Dieser Beitrag stellt deshalb kurz das Modell vor.

Erfordern gesellschaftliche Veränderungen neue Bibliothekskonzepte?

Die dänische Regierung verfolgt explizit das Ziel, das Land so in der globalen Welt zu positionieren, dass die allgemeine Wohlfahrt und der Zusammenhalt in der Gesellschaft erhalten sowie Innovation und gesellschaftlicher Fortschritt gefördert werden. Das neue Modell soll Öffentliche Bibliotheken in dieser Gesamtstrategie verorten. Somit wurde es notwendig, sich auch mit politischen Themen ‒ beispielsweise der Reaktion auf die Diversifizierung von Lebensstilen und der “De-Traditionalisierung” (Jochumsen, Rasmussen, Skot-Hansen 2012, 588) ‒ auseinanderzusetzen. Gleichzeitig müssen Bibliotheken auf die Herausforderung elektronischer Medien und den Wandel der Bibliotheksnutzung reagieren.

Vier Funktionen, vier Räume

Das vorgelegte Modell konzipiert als Antwort auf diese Herausforderungen vier Ziele, die moderne Öffentliche Bibliotheken unterstützen sollen.

  1. Erlebnis und Erfahrungen (Experience), insbesondere bezogen auf den Trend zum eigenständigen Lernen und Herstellen von Medien
  2. Beteiligung (Contribution), bezogen auf den gesellschaftlichen Trend, nicht mehr vorrangig vorgegebene Angebote zu konsumieren, sondern Angebote aktiv mitzugestalten
  3. Ermächtigung (Empowerment), im Sinne einer pluralen Gesellschaft auch das Empowerment von sozial schwachen Gruppen
  4. Innovation, im Sinne vom Kreieren und Umsetzen neuer Ideen

Darauf aufbauend ergeben sich vier Funktionen, die Bibliotheken erfüllen können. Dabei steht das Modell in einem theoretischen Kontext, der Raum immer als Ergebnis von (a) Infrastruktur, (b) Angebot und (c) aktueller Nutzung des Raumes versteht. Infrastruktur wären hier Medien, Möbel, die Lage der Bibliothek im lokalen Umfeld; das Angebot wäre das aktuelle bibliothekarische Programm, Medienauswahl, Veranstaltungen, Kooperationen, Unterstützungs­leistungen des Bibliothekspersonals; die aktuelle Nutzung wird vor allem bestimmt von den Menschen, die in die Bibliothek kommen. Nur ein Blick, der alle diese Positionen einschliesst, kann zeigen, wie der Raum Bibliothek tatsächlich funktioniert. Das Modell zeigt, dass die Nutzung einer Bibliothek auch davon abhängt, wie die Nutzenden sie annehmen. Die Bibliothek kann die Nutzenden nicht steuern, insoweit kann sie die Nutzung des Raumes auch nicht vollständig festlegen.

Das Modell beschreibt, aufbauend auf den vier Funktionen, vier Räume, die Bibliotheken anbieten können. Jede Bibliothek muss selber, ausgehend von den eigenen Möglichkeiten, Ansprüchen und lokalen Anforderungen, entscheiden, welche Räume sie anbietet. Je grösser eine Bibliothek ist und je besser die lokale Community darauf regiert, je mehr dieser Räume können in einer Einrichtung untergebracht werden.

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Abbildung 1: Modell der Vier Räume (mit Genehmigung der Autoren /Autorin des Originaltextes)

Die vier Räume gliedern sich wie folgt:

  1. Raum für Anregungen, beständig und aktiv durch die Bibliothek immer wieder neu eingerichtet durch Ausstellungen, wechselnde Bestände etc.
  2. Lernraum, unterstützt durch lernanregende Umgebungen ‒ Einzelplätze, flexible Gruppenplätze, Veranstaltungen etc. ‒ und Medien.
  3. Treffpunkt, symbolisiert z.B. durch Bibliothekscafés, regelmässige Treffen für Mütter, Jugendliche etc.
  4. Performativer Raum, insbesondere als Makerspaces, Kinderlabore, Reparaturcafés usw. in denen Raum, Medienbestand und Angebote fern der Medien direkt angeboten und partizipativ ‒ also nicht nur von der Bibliothek angeleitet ‒ genutzt werden können.

Dabei betonen Jochumsen, Skot-Hansen und Rasmussen (2012), dass dieses Modell vorhandene Bibliothekskonzepte aufnimmt und fortschreibt. Insoweit ist vieles grundsätzlich bekannt, aber systematisiert, aktualisiert und insbesondere im vierten Raum auch erneuert.

Nutzen des Modells

Das Modell kann auf verschiedene Weise genutzt werden: (a) Als Instrument für die strategische Entwicklung von Bibliotheken und deren Angebote. Das Modell ermöglicht dabei z.B. auch, Bibliotheken als Vorbilder auszusuchen, die eine bestimmte Funktion besonders betonen. (b) Als Diskussionsgrundlage für das Öffentliche Bibliothekswesen über die eigene Zukunft. Die im Modell beschriebenen Funktionen und Räume können akzeptiert, abgelehnt, gemeinsam in eine andere Richtung entwickelt werden. Das Modell fokussiert dabei auf relevante Diskussionspunkte. (c) Als konzeptionelles Modell für Bibliotheksforschungen ermöglicht es, Forschungsfragen an vermuteten Funktionen von Bibliotheken zu orientieren. Beispielsweise ist es möglich, die Verteilung der einzelnen Funktionen in unterschiedlichen Bibliotheken oder Zusammenhänge zwischen dieser Verteilung und den jeweiligen lokalen Gegebenheiten zu untersuchen. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass das Modell einen normativen Charakter besitzt. Es beschreibt, wie sich Bibliotheken entwickeln sollen, um die von der Gemeinschaft (durch den dänischen Staat) formulierten Ziele zu erreichen. Es dient also weniger der wissenschaftlichen Analyse des IST-Zustandes, sondern beschreibt ein idealtypisches Modell. Eine Aufgabe der Forschung kann dabei darin bestehen, auf der Grundlage empirischer Untersuchungen allenfalls auch Korrekturen am Modell vorzunehmen.

Ein Modell für die Schweiz?

Eine wichtige Frage ist, ob das Modell nur in dänischen Bibliotheken oder auch in anderen Ländern sinnvoll genutzt werden kann. (Thorhauge, 2014, fragt dies z.B. für Deutschland). Es bestehen viele Gemeinsamkeiten zwischen Dänemark und der Schweiz, allerdings unterscheiden sich die politischen Rahmenbedingungen beträchtlich. Der Schweizer Föderalismus steht zum Beispiel einer einheitlichen Kultur- und Bibliothekspolitik entgegen. Eine staatliche Initiative wie in Dänemark ist für die Schweiz relativ unrealistisch.

Zudem bestehen gänzlich unterschiedliche Traditionen in der Zusammenarbeit zwischen Bibliotheken und der Wahrnehmung von bibliothekswissenschaftlichen Diskussionen. Während Dänemark mit der Royal School und der Bibliotheksagentur zwei Akteure aufweist, die Diskussionen normativ anregen und prägen, konnte sich in der Schweiz ein solcher Akteur nicht etablieren. Diskussionen finden eher auf kantonaler Ebene statt, mit St. Gallen als aktuellem Beispiel. Unterschiedlich ist auch der Stellenwert der bibliothekswissenschaftlichen Forschung in Dänemark mit universitärer Forschung und der Schweiz mit angewandter Forschung an den beiden Fachhochschulen in Chur und Genf.

Das Modell bietet ohne Frage eine fruchtbare Grundlage für bibliothekarische Arbeit und strategische Überlegungen, doch ist es in der Schweiz den einzelnen Bibliotheken überlassen, es anzuwenden und umzusetzen ‒ und über erfolgreiche Projekte zu berichten. Die Bibliothekswissenschaft kann im Anschluss vor allem die konkreten Umsetzungen untersuchen und systematisieren, was wiederum eine breitere Adaption des Modells fördern kann.

Literatur

Jochumsen, H. ; Rasmussen, C. H. ; Skot-Hansen, D.: The four spaces - a new model for the public library. New Library World 113 (11/12) 2012, 586-597

Thorhauge, J.: Ein breites Spektrum abdecken: Das Konzept für die moderne Bibliothek. BuB 66 (01) 2014, 32-35

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