Karsten Schuldt
Einleitung: Die Umfrage unter Öffentlichen Bibliotheken und ihr Kontext
Das Team für Bibliothekswissenschaft am SII ist an einem grösseren Projekt beteiligt, bei dem – geleitet von Kolleginnen und Kollegen aus Norwegen – gefragt wird, wie Öffentliche Bibliotheken in verschiedenen Länder (Schweden, Dänemark, Norwegen, Deutschland, Ungarn, USA, Schweiz) im Zusammenhang stehen können mit Demokratie, Partizipation und ähnlichen Themen. Als erstes Ergebnis des Projektes kann schon einmal festgehalten werden, dass Öffentliche Bibliotheken in den beteiligten skandinavischen Staaten (Norwegen, Schweden, Dänemark) einfach anders „funktionieren“ und auch anders von der Bibliothekswissenschaft und der jeweiligen Gesellschaft gesehen werden, als in den anderen beteiligten Staaten (unter anderem der Schweiz). Während die drei skandinavischen Ländern starke Parallelen aufweisen, zeigt sich in den anderen Ländern, dass sie jeweils sehr eigene Verständnisse davon haben, was die Aufgabe von Öffentlichen Bibliotheken ist, wie sie aussehen sollen, wie sie funktionieren und so weiter. Oder anders: Die Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz sind einfach anders als die in anderen Ländern. Sie sind sehr eigen (wie ja auch die Schweiz sehr eigen ist).1
Im Rahmen dieses Projektes führten wir vom 16.04 bis 30.04. eine Umfrage unter dem Personal in Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz durch. Die Umfrage wurde etwa zeitgleich auch in den anderen beteiligten Ländern durchgeführt, jeweils in einer auf das jeweilige Land angepassten Variante. Ein Ziel des Projektes ist selbstverständlich, die Antworten der verschiedenen Umfragen zu vergleichen und zu schauen, wo sich Bibliothekswesen unterscheiden und wo nicht. Ebenso werden diese Ergebnisse im Projekt mit anderen Daten verglichen (z.B. mit den Ergebnissen einer Telefonumfrage, die in diesem Blog auch schon kurz dargestellt wurden, siehe hier). Diesen Beitrag möchte ich aber darauf beschränken, die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage in der Schweiz darzustellen.
Bei den Fragen, die in der Umfrage gestellt wurden, ist zu beachten, dass das ganze Projekt und die ganze Umfrage – trotz Inputs der Forschenden aus anderen Ländern – sehr skandinavisch geprägt ist. (Was dies heissen und auslösen kann, haben der Kollege Rudolf Mumenthaler und ich in der letzten LIBREAS. Library Ideas dargestellt: Partizipation in Bibliotheken.) Das erklärt, warum bestimmte Fragen vielleicht etwas unerwartet sind: Sie stammen aus einem etwas anderen Denken darüber, was die Aufgaben von Bibliotheken sein könnten und wie Bibliotheken funktionieren.
Teilnahme
Technisch umgesetzt wurde die Umfrage in Limesurvey (die Standardsoftware für solche Umfragen bei Projekten der HTW Chur, die hier verwendeten Graphiken sind auch von dieser Software erstellt). Eine Einladung für die Umfrage wurde über die Mailingliste swisslib (die als die bibliothekarische Mailingliste in der Schweiz gelten kann) verschickt. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass nur Personal aus Öffentlichen Bibliotheken (in einer sehr weiten Definition) gesucht wurden.
Trotz der kurzen Laufzeit wurden insgesamt 86 vollständige Antworten (und weitere 49 unvollstädnig) abgegeben, die hier für die Auswertung herangezogen werden. Das ist eine erstaunlich hohe Anzahl. Offenbar gibt es unter Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz ein grosses Interesse, an solch einer Umfrage teilzunehmen.2
Aus diesen Antworten kann man selbstverständlich nicht schliessen, dass sie direkt darstellen, was in allen Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz gedacht und getan wird (zumal es keine französische, italienische oder rätoromanische Übersetzung gab, weil am Ende einfach alles schnell gehen musste3). Sie geben aber Hinweise auf Tendenzen. Zu bedenken ist, dass vor allem die an der Umfragen teilgenommen haben werden, die etwas mitteilen wollten oder an den Fragen selber interessiert waren – und zudem Deutsch zumindest soweit beherrschten, dass sie sich eine solche Umfrage zutrauten. (Noch relevanter werden diese Ergebnisse dann im Vergleich mit den Umfragen in anderen Ländern, wo ja auch die geantwortet haben werden, die von sich aus teilnehmen wollten – also strukturell die gleichen Personengruppen wie in der schweizerischen Umfrage.) Trotzdem ermöglichen die Ergebnisse einige Einblicke in Bibliotheken, die sonst eher vermutet werden – und zudem die Überprüfung von einigen Vermutungen über Bibliotheken in der Schweiz.
Wer arbeiten in Bibliotheken? Was machen sie oder er?
In den ersten Fragen ging es darum zu verstehen, wer in den Öffentlichen Bibliotheken überhaupt arbeitet und mit welchem Fokus.
Exkurs: Wie die Fragen vom jeweiligen System abhängen. Ein Beispiel
Auch hier spielten Vorstellungen aus Skandinavien eine Rolle. Die Frage sechs („Auf welchem Level haben Sie diese Ausbildung absolviert?“) wurde zum Beispiel für die Schweiz extra um die Antwortmöglichkeit „SAB-Kurs“ ergänzt. Die Kolleginnen und Kollegen in Skandinavien leben mit Bibliothekssystemen, in denen eigentlich in Bibliotheken nur dann gearbeitet wird, wenn man eine Berufslehre oder – viel öfter – ein Studium explizit für die Arbeit in Bibliotheken absolviert hat. Gerne auch mit Master oder Doktortitel. Dafür gibt es dann aber auch Ausbildungskapazitäten. In der Schweiz, soviel war vorher schon klar, gibt es nur in Chur und Genf überhaupt die Möglichkeit, einen Bachelor auf FH-Niveau zu machen, die angebotenen Master bewegen sich inhaltlich vom Öffentlichen Bibliothekswesen weg. Auf Universitätsniveau gibt es gar keine Ausbildung oder gar die Möglichkeit einer Promotion. (Im ganzen deutsch-sprachigen Raum gibt es die nur in Berlin, im Gegensatz zu mehreren Möglichkeiten in Skandinavien.)
Dafür gibt es den SAB-Kurs (inklusive Vorgänger), und subsidäre Fortbildungen mit verschiedenen MAS-Kursen. Es ist zu erwarten, dass sich in der Schweiz dafür viel mehr Personen mit anderen Berufserfahrungen, als nur solchen aus der Bibliothek, in den Bibliotheken finden, was eine Stärke sein kann (weil diverse Erfahrungen eine Stärke sind). Es war aber, das als Nebenbemerkung, den Kolleginnen und Kollegen in Skandinavien überhaupt nicht klarzumachen, dass es solche Unterschiede gibt. In deren Umfragen gibt es wohl nur die Wahlmöglichkeit Berufsausbildung, Hochschulausbildung, FH oder Uni, und als Sammelkategorie „Sonstiges“.4 Eine Kategorie für eine berufsbegleitende Fortbildung, die der SAB-Kurs ja meistens ist, gibt es gar nicht. Es schien ihnen nur ein ganz seltener Fall zu sein, der nicht extra erhoben werden muss. Aber, wie wir gleich sehen werden, hätte man ohne diese Kategorie in der Schweiz keine sinnvollen Daten erheben können.
Zusammensetzung des Personals in Öffentlichen Bibliotheken
Wie oben angedeutet, ist die Berufserfahrung, die in der Schweiz in den Öffentlichen Bibliotheken zu finden ist, sehr divers. Der Grossteil der Kolleginnen und Kollegen (66 Ja, gegen 7 Nein und 3 ohne Antwort) haben eine bibliothekarische Ausbildung, aber sie bringen auch viele andere Erfahrungen mit.
Von den Personen mit einer solchen Ausbildung haben die meisten gerade den genannten SAB-Kurs absolviert (29, plus fünf Vorgänger-Kurse und eine Person, die den SAB-Kurs zu absolvieren plant), alle anderen Ausbildungsgänge kommen dahinter (Berufsausbildung 7, MAS 10, Bachelor 11, Master oder höher 5).
Gleichzeitig haben 60 (gegen 15 „nein“, 1 „keine Antwort“) Personen angegeben, auch eine andere Ausbildung mit in ihre Arbeit zu bringen.
Es gibt die unter der Hand immer wieder einmal geäusserte Vorstellen, dass vor allem Lehrpersonen und Buchhändlerinnen bzw. Buchhändler in die Bibliothek wechseln würden. Die Daten zeigen das nur zum Teil. Gruppiert man die Angaben (hier von allen, die diese Frage beantwortet haben) zu den anderen Ausbildungen, so ergibt sich folgendes:
- 14 kaufmännische Ausbildung
- 10 Buchhandel
- 8 Lehrpersonen (Schule, Weiterbildung)
- 8 Gesundheitswesen
- andere Ausbildungen: Jeweils 1 oder 2
Es findet sich also auch viel Wissen aus dem kaufmännischen Bereich und dem Gesundheitswesen in den Bibliotheken. Gleichzeitig aber auch immer wieder anderes Wissen, so das einzelne Bibliotheken teilweise sehr spezifisches Personal mit spezifischen Wissen haben. (Dies zeigt sich auch bei den angegebenen Berufserfahrungen.) Ein Potential, dass vielleicht bislang kaum genutzt wird.
Ansonsten ist – wenig überraschend – das Öffentliche Bibliothekswesen ein Profession, die weiblich geprägt ist. 65 Frauen, 10 Männer haben die Umfrage beantwortet, wobei zu beachten ist, dass (wegen der breiten Definition) offenbar auch Personal aus Kantonsbibliotheken oder solche im Auftrag des Bundes teilgenommen haben. Hätte man die Umfrage auf Gemeinde- und Schulbibliotheken reduziert (was dann aber Bibliotheken wie z.B. die Kantonsbibliothek Liestal ausgeschlossen hätte), wäre die Verteilung wohl noch eindeutiger gewesen. Vielleicht leicht überraschender ist, dass die Bibliothekarinnen und Bibliothekare (zumindest die, die geantwortet haben, hier alle, die mit der Umfrage angefangen haben) relativ alt sind. Im Öffentlichen Bibliothekswesen spiegelt sich nicht unbedingt der Altersaufbau der schweizerischen Gesellschaft wieder:
- 18-19: 1 Person
- 20-29: 7 Personen
- 30-39: 14 Personen
- 40-49: 28 Personen
- 50-59: 49 Personen
- 60-69: 5 Personen
- 70-79: 1 Person
Anders wären aber die anderen Berufsausbildungen und -erfahrungen, die sich im Bibliothekswesen finden, nicht zu erklären. Dabei haben (ihrer Stellenbezeichung nach) vor allem Personen aus Bibliotheksleitungen teilgenommen. Aber ebenso wie bislang im Bibliothekswesen wenig auf die Potentiale diese verschiedenen Berufsausbildungen zurückgegriffen wird, wird vielleicht auch wenig auf die Lebenserfahrungen, die sie sich finden, zurückgegriffen.5
Eine Angst den Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien ist, dass die Bibliotheken die Diversität der Herkünfte in den jeweiligen Gesellschaften nicht abbilden, deshalb fand sich auch eine Frage dazu, wo das Personal oder deren Eltern herstammen, in der Umfrage. Hier zeigt sich, dass die Repräsentation in der Schweiz recht gut zu sein scheint: 54 haben ein rein schweizerische Familien, bei 20 Personen wurde die Eltern oder sie selber im Ausland geboren. Dies stimmt recht gut der Zahl von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz überein.
Für wen wird die Bibliothek gemacht?
Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz werden direkt für die Nutzerinnen und Nutzer gemacht. 74 Personen geben an, regelmässig Kontakt mit ihnen zu haben oder an Angeboten für sie zu arbeiten (eine Person nicht). Auch bei dieser Frage zeigt sich eine anderes Verständnis von Bibliotheken als Hintergrund. In anderen Ländern sind Bibliotheken so aufgebaut, dass Arbeiten (z.B. Planung, Katalogisierung, IT) so ausgelagert sind, dass sie der Bibliothek, aber nicht direkt den Nutzerinnen und Nutzern zu Gute kommen. Gerade, wenn Bibliotheken gross und intern differenziert sind, ist dies wohl normal. Öffentliche Bibliotheken in der Schweiz sind aber eher so organisiert, dass es solche rein internen Bereiche kaum gibt.6
In einer ganzen Fragenbatterie wurde erhoben, welche Aufgaben in den Bibliotheken als wichtig oder unwichtig für die alltäglichen Arbeiten angesehen wurden. Hier zeigten sich eindeutige Tendenzen, die sich garantiert im internationalen Vergleich anders darstellen werden. Als wichtig zeigten sich: Angebote für Kinder und Jugendliche, Managementaufgaben, Bestandsmanagement, Katalogisierung, Durchführung von Veranstaltungen wie Lesungen, Pflege Digitaler Angebote. Durchwachsener waren die Antworten für Pflege von Kooperationen, Angebote für andere Zielgruppen („spezifische Zielgruppen“, Seniorinnen und Senioren, Geflüchtete), Durchführung „kreativer Angebote“ (Makerspace, Leseclub). Als sehr unwichtig wurden Angebote wie Spezialsammlungen, Angebote ausserhalb der Bibliotheken, Bücherbusse, aber auch Angebote für Behinderte angegeben. Dabei ist zu beachten, dass dies Angaben dazu sind, was in der tatsächlichen Arbeit als wichtig oder unwichtig angesehen wird, sich also auch aus der Erfahrung in Bibliotheken ergeben hat. Z.B. könnte sich, im Gegensatz zum Eindruck, den man durch die Literatur gewinnen könnte, in vielen Bibliotheken gezeigt haben, dass Makerspaces einen zu geringen Gewinn für den jeweils notwendigen Einsatz haben und deshalb als weniger wichtig angesehen werden.
Es zeigen sich einige weitere Eigenheiten schweizerischer Öffentlicher Bibliotheken: Es scheint z.B., dass Leitungsaufgaben und Aufgaben wir die Pflege des Bestands oder der Arbeit für Kinder und Jugendliche in der Schweiz kaum getrennt sind, sondern von den gleichen Personen durchgeführt werden. Dies wird in anderen Bibliothekswesen nicht unbedingt so sein. Gleichzeitig gibt es zumindest im deutschsprachigen Teil der Schweiz (erstaunlicherweise) keine Tradition von Bibliotheksbussen.7 Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen, wo der Bücherbus fast durchgängig als irrelevant für die alltägliche Arbeit in Bibliotheken beschrieben wird. In skandinavischen Bibliotheken wird der Bücherbus ein viel wichtigere Rolle spielen, es ist auch zu erwarten, dass die „Professionalisierung“ (im Sinne von: Personen sind spezifisch für klar Aufgaben ausgebildet und machen auch nur diese) höher sein wird.
Eine andere Fragenbatterie bezog sich auf „nicht traditionelle Medien“. Auch hier haben die Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien einige Erwartungen. Alles sollte digital geworden sein und gleichzeitig sollte die Bibliothek innerhalb und ausserhalb der eigenen Räume aktiv sein. Die Antworten aus der Schweiz zeigten klare Präferenzen: Als wichtig wurden E-Books, Digitale Audio-Books, die Durchführung von Veranstaltungen innerhalb der Bibliothek, Angebote für Schulen / Schulbibliotheken (die beiden letzten sogar mit mehr Nennungen als E-Books) angegeben. Hingegen wurde bei vielen Angeboten, die sich die Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien als „modern“ vorstellen, in der Schweiz eher angegeben, dass sie nicht angeboten würden – und wenn, dann eher nicht relevant seien: andere Online-Medien wie Spiele, Lesegruppen und organisierte Angebote, wie z.B. „Eine Stadt liest ein Buch“, Sprachcafés, „Kreative Aktivitäten“ wie Makerspaces oder Strickgruppen, Verleih von nicht-traditionellen Materialien, Gaming-Angebote, Computerkurse, Digital Literacy-Angebote. Während die Tendenzen bei all diesen Antworten eindeutig waren (wenn es auch immer einzelne Bibliotheken gab, die genau andersherum „stimmten“), galt dies bei Aktivitäten ausserhalb der Bibliothek und bei der individuellen Hilfe für Nutzerinnen und Nutzer beim Umgang mit elektronischen Geräten nicht. Hier wurde eher angeben, dass dies angeboten wird, aber eher nicht so wichtig wäre; beide Male aber gleichzeitig mit Bibliotheken, die dies auch als wichtig ansahen.
Zusammengefasst sind die Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz eher darauf ausgerichtet, einige Digitale Medien (wohl vor allem über die divibib, auch das ist anderen Staaten anders, da sind solche Quasi-Monopole von einem Anbieter nicht unbedingt zu erwarten bzw. der Monopolist ist der Staat, wie in Dänemark) integriert zu haben, viele Veranstaltungen in der Bibliothek selber (aber nicht, wie sich das in bibliothekarischen Literatur anderer Staaten vorgestellt wird, viel ausserhalb) durchzuführen und vor allem auf die Unterstützung von Schulen ausgerichtet zu sein. Die in der bibliothekarischen Literatur (auch der Schweiz und des deutschsprachigen Raumes) beständig thematisierten Themen wie Makerspaces oder Gaming-Angebote haben gar nicht so sehr Niederschlag in den Bibliotheken gefunden. Auch das sollte man nicht vorschnell negativ interpretieren. Wie gesagt ergeben sich solche Entscheidungen aus Erfahrungen und Entscheidungen der Bibliotheken vor Ort. Vielleicht sind Bibliotheken in der Schweiz einfach auch stark in bestimmten Bereichen und gleichzeitig sind viele Vorhersagen, wie sich Bibliotheken entwickeln müssen (Kreative Angebote, Gaming etc.) gar nicht so gesellschaftlich wichtig, wie dies in der Literatur vertreten wird. Zumindest ist dies ein möglichen Eindruck aus der Umfrage.
Eine für die Schweiz eingeschobene Frage war die danach, wer die Bibliotheken trägt. Für Skandinavien, wo das in Bibliotheksgesetzen eindeutig geregelt ist (der Staat betreibt die Bibliotheken und die dazugehörige Infrastruktur), stellt sich die Frage nicht. In der Schweiz wird immer wieder vermutet, dass eine sehr unterschiedliche Trägerschaft vorliegt. So unterschiedlich ist sie aber nicht (mehr?). Mit Mehrfachnennungen zeigt sich folgendes Ergebnis:
- Der Staat (Gemeinde/Stadt, Kanton, Bund): 75
- Verein: 15
- Stiftung: 8
- Schule / Schulgemeinde: 2
- Religionsgemeinschaft: 1
- Universität: 1
- Genossenschaft: 1
Wie sehr ist die Bibliothek Bibliothek? Und: Ist die Bibliothek eine demokratische Einrichtung?
Die Grundfrage des gesamten Projektes ist, wie und ob Öffentliche Bibliotheken in der Gesellschaft wirken und vor allem, ob sie Demokratie befördern können. Dies hat auch einen sehr spezifisch skandinavischen Hintergrund: Demokratie wird bei den Kolleginnen und Kollegen mit einen sehr „habermas‘schen“ Hintergrund, wo Demokratie immer Kommunikationszusammenhang bedeutet, verstanden (auch das ist etwas genauer in dem Text von Rudolf Mumenthaler und mir dargelegt: siehe hier). Aus diesem Denken ergaben sich dann Fragen in der Umfrage selber.
Zuerst die danach, wie Bibliothekarinnen und Bibliothekare die Rolle einer Bibliothek einschätzen. Hier ist die Hoffnung der Kolleginnen und Kollegen, dass sie vor allem als Orte der aktiv umgesetzten Demokratie gesehen werden (als Habermas-Fans: halt nicht nur Informationen anbieten, sondern aktiv Kommunikation herstellen und ermöglichen). Wie ist die Meinung in der Schweiz?
Bibliotheken sehen sich in der Schweiz als Ort, an dem Informationen angeboten werden und dieses Angebote wieder sehen sie offenbar als Teil gelebter Demokratie. Sie sehen sich auch als „öffentlichen Treffpunkt“, aber es wäre zu diskutieren, ob sie diese „Treffpunkt“ so verstehen, wie es von den Kolleginnen und Kollegen gemeint haben, als sie die Umfrage formulierten: Eben als Ort, wo Kommunikation hergestellt wird, die dann zu einer demokratischen Gesellschaft führen. (Wie gesagt sieht man an der Umfrage auch die Probleme der „Übersetzung“ von Konzepten aus anderen Staaten.) Ansonsten betonen die Bibliotheken in der Schweiz stark Aufgaben wie die Förderung des literarischen und kulturellen Erbes, des Lernens und der „sinnvollen Freizeitgestaltung“. Als weniger wichtig bezeichnen sie all die „kreativen Angebote“, aber auch – und das ist relevant im Vergleich zu den ganzen Zustimmungen zur Aufgabe des „Informationen anbietens“ – die schön Habermas‘sche Items „Selber eine Arena für öffentliche Treffen und Diskussionen sein“ und „Die Bibliothek fördert Demokratie, indem Sie selber eine Arena für den öffentlichen Diskurs darstellt“ werden als weniger wichtig angesehen. Erstaunlich ist die Zustimmung zum Item „Das Bereitstellen digitaler Arenen für die Diskussion von lokalen Themen“, das hier als bibliothekarische Aufgabe hohe Zustimmung erhält, obwohl es als konkretes Thema (siehe oben) als weniger wichtig für den Bibliotheksalltag galt. Der Aufgabe zustimmen heisst noch nicht, dass sie auch umgesetzt wird.
In zwei weiteren Fragen sollte erhoben werden, wie sehr die Bibliothekarinnen und Bibliothekare ihre Arbeit in der Arbeit anderer Professionen gespiegelt sehen und welche Kompetenzen ihre Meinung nach in den Bibliotheken fehlen würden. Dabei sein nochmal daran erinnert: Es hat sich gezeigt, dass sich in den schweizerischen Bibliotheken schon viele Kompetenzen aus anderen Berufsfeldern finden (mit dem Pflegeberufen auch aus einem Feld, dass in der Umfrage gar nicht erfragt wurde), was in anderen Staaten nicht so ist. Vielleicht sind deshalb auch einige Einschätzungen in der Schweiz realistischer.8
Am ehesten vergleichen sich die Befragten nämlich nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, mit Lehrpersonen oder Erwachsenenbildnern / Erwachsenenbildnerinnen, auch nicht mit denen eines Literaturkritikers / einer Literaturkritikerin oder eines Kulturanimateurs / einer Kulturanimateurin und auch nicht einer Jugendarbeiterin / eines Jugendarbeiters. All diese Rollen liegen eher im oberen Mittelfeld. Ebenso die Rolle eines Verfechters / einer Verfechterin für die Freiheit von Meinung und Information, von welcher die skandinavischen Kolleginnen und Kollegen viel erwarten. Nein, die Rollen mit den meisten Zustimmungen sind die eines / einer Kommunikationsbeauftragten, auch die eines Event-Managers / einer Event-Managerin und einer PR-Agentin / eines PR-Agenten schneiden nicht schlecht ab. Bei aller Betonung von „Bildung“ oder „Informationsfreiheit“ als Aufgabe von Bibliotheken sehen sich die Kolleginnen und Kollegen in den Bibliotheken also eher in der Rolle, Veranstaltungen zu organisieren und zu promoten. Das ist auch bemerkenswert, weil weiter oben angegeben wurde, dass zwar die Veranstaltungen in der Bibliothek relevant sind, aber die ausserhalb der Bibliothek – obwohl durchgeführt – keine grosse Relevanz haben.
Ganz abgelehnt werden Rollen wie Security (vielleicht ein Hinweis auf die hohe Sicherheit in der Schweiz), Psychologin / Psychologe, aber auch Museumskuratorin / -kurator oder Archivar / Archivarin.
Bei der Frage, welche Berufsgruppen in der Bibliothek fehlen würden, wurde zuerst Social-Media-Spezialistinnen und -Spezialisten genannt (19 Nennungen), dann (gleichauf, 17 Nennungen) IT-Support-Kraft und Jugendarbeiter / -arbeiterin, anschliessend Sozialarbeiterin / -arbeiter (13 Nennungen). Interpretiert werden kann das vielleicht dahin, dass Personal für Bildungsaufgaben etc. kaum fehlt, dafür solche für die Betreuung der IT und der sozialen Arbeit.
Thema Partizipation
Wie schon gesagt interessiert die Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien die Frage, wie Bibliotheken in einem Habermas‘schen Sinne zur Demokratie beitragen können. Die Vorstellung ist, dass sie das könnten, wenn sie eine hohe Form von Partizipation ermöglichen. (Und hier nochmal der Hinweis auf den Text von Rudolf Mumenthaler und mir dazu, wie schwierig zu greifen dieses Thema überhaupt ist.) Hierzu gab es eine weitere Fragenbatterie, die sich nur mit diesem Thema beschäftigte.
Die Antworten zeigten für die Schweiz Bibliotheken, die (a) grundsätzlich zustimmen, dass Partizipation sinnvoll wäre, (b) sich darunter vor allem vorstellen, Nutzerinnen und Nutzern besser zuzuhören (was sie als sinnvoll wahrnehmen) und (c) Nutzerinnen und Nutzer nicht direkt an Entscheidungen der Bibliothek beteiligen wollen und es auch nicht als Problem ansehen, wenn sich diese nicht mehr aktiv beteiligen. Wer seinen Habermas gelesen hat (oder Isaiah Berlin oder Sherry Arnstein) merkt schnell, dass hier von zwei unterschiedlichen Formen von Partizipation ausgegangen wird: Schweizerische Bibliotheken verstehen Partizipation als „Zuhören“, aber nicht als das Abgeben von Entscheidungsmacht; das Verständnis, wie es die Kolleginnen und Kollegen hinter der Umfrage vertreten ist hingegen, dass Partizipation nur als Teil einer gelebten Demokratie gelten kann, wenn auch Entscheidungsmacht verteilt wird. (Ob die Bibliotheken in Skandinavien das auch so sehen, wird noch interessant zu sehen sein.)
Auch hier sollte man sich wieder davor hüten, das eine oder andere als falsch oder richtig zu bewerten. Es scheint einfach wieder, dass sich hier verschiedene Kulturen zeigen.
Fazit
Wie schon weiter oben gesagt, wird sich die Relevanz der Ergebnisse dieser Umfrage vor allem im Vergleich mit den Umfrageergebnissen in den anderen beteiligten Staaten erhöhen. Was aber sichtbar geworden ist, ist eine für die Schweiz eigentümliche Struktur des Bibliothekswesens, inklusive dessen, was als Aufgabe von Bibliotheken wahrgenommen wird: Viele Personen, die aus anderen Berufen und mit Erfahrungen aus diesen Berufen in die Bibliothek gewechselt sind, viele Bibliotheken, in den „alle alles“ machen, Konzentration auf Kinder und Jugendliche, Veranstaltungen in der Bibliothek selber und Leseförderung, wenig „kreative Angebote“, ein spezifisches Verständnis davon, was Partizipation in Bibliotheken ist und wie man Demokratie fördert (mit Vermittlung von Informationen).
Dies ist – so wie wohl in den anderen Bibliothekswesen und Staaten auch – besonders für die Schweiz. Es scheint wichtig, diese Besonderheiten als Ergebnis der Entwicklungen in Öffentlichen Bibliotheken – und gerade nicht nur in grossstädtischen – zu verstehen. Dies gilt es zum Beispiel für übergreifende Strategieentwicklungen, bei Vorhersagen darüber, wie sich Bibliotheken entwickeln müssen oder – gerade aktuell bei der Reorganisation der Bibliotheksverbände in der Schweiz zu BiblioSuisse – auch bei der Weiterentwicklung der Aus- und Fortbildung zu beachten. Sie können nicht einfach wegdiskutiert oder als „falsch“, „veraltet“ etc. diskreditiert werden.
Fussnoten
1 Dieses Ergebnis sollte auch Auswirkungen auf die Tradition haben, als Bibliothekswesen nach Dänemark, Schweden, Norwegen zu schauen und zu erwarten, dort die Zukunft der Bibliotheken in der Schweiz (oder in Deutschland, da gibt es diese Tradition auch) zu finden. Oder aber neidisch zu sein darüber, wie die Bibliotheken dort ausgestattet sind etc. Bibliotheken in der Schweiz folgen einfach eigenen Entwicklungen und Traditionen. (Aber es ist auch nicht zu erwarten, dass diese Tradition einfach aufhört. Sie gehört offenbar zum schweizerischen Bibliothekswesen.)
2 Für die parallele Umfrage in Deutschland gilt dies ebenso: Auch dort gab es erstaunlich viele Antworten. Vielleicht kann man dies als Hinweis darauf deuten, dass es ein grosses Interesse an Informationen über die Realität in Öffentlichen Bibliotheken, aus diesen Bibliotheken heraus, gibt? Dann würde sich mehr Forschung in dieser Richtung lohnen, allerdings – so immer der Vorbehalt in schweizerischen Fachhochschulen – nur, wenn sich dafür Forschungsgelder auftun.
3 Auch etwas, was in solchen internationalen Projekten zu lernen ist: Die „Problematik“ (ja eigentlich nur das Geld- und Zeitproblem), dass eine solche Umfrage in der Schweiz zumindest in eine weitere Landessprache übersetzt werden müsste, ist bei Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern bei deren Projektplanungen einfach nicht auf dem Schirm und geht auch immer wieder vergessen. Aus monolingualen Gesellschaften heraus wird offenbar immer wieder angenommen, dass andere Gesellschaften auch vor allem monolingual funktionieren.
4 Nebenbemerkung: Wenn dann in der bibliothekarischen Literatur Aussagen z.B. aus Aarhus überliefert werden, wie wichtig es sei, auch nicht-bibliothekarisches Personal einzustellen, sollte man das beachten: Diese Aussagen werden auf der Basis einer ganz anderen Ausbildungssituation in Dänemark (oder anderen Staaten) gemacht; wobei ich auch davor warnen würde, zu werten und zu sagen, in welchem Land die Ausbildungssituation besser wäre. Wie gesagt und gleich gezeigt: Das schweizerische System führt direkt dazu, dass Menschen mit unterschiedlichen Berufshintergründen in den Bibliotheken arbeiten, während Dänemark das eher nicht hat. Vielleicht ist es also gar keine allgemeine Zukunftsperspektive, noch mehr Menschen mit nicht-bibliothekarischen Hintergründen einzustellen, sondern nur eine die spezifisch für Dänemark (bzw. Skandinavien) ist.
5 Anmerkung, insbesondere eigentlich für die HTW: Es wäre schon zu diskutieren, was hier passiert, wenn jetzt verstärkt junge Leute in Bachelorstudiengängen bibliothekarisch ausgebildet werden und dann (auch) auf Leitungsstellen in Öffentlichen Bibliotheken eingesetzt werden sollen, wenn ein Grossteil des Personal viel älter (Lebenserfahrener?) und bibliothekarisch vielleicht „weniger“, aber anderweitig besser ausgebildet ist.
6 Anmerkung: Auch hier zeigt sich, dass man aufpassen sollte, wenn man Beispiele aus anderen Ländern rezipiert. Wenn z.B. in skandinavischen Bibliotheken immer wieder betont wird, dass es wichtig ist, die Nutzerinnen und Nutzer zu befragen, einzubeziehen etc. könnte das auch damit zu tun haben, dass dort die Personen, die Entscheidungen über Bibliotheken treffen, praktisch sonst keinen Kontakt mit Nutzerinnen und Nutzern haben, sondern nur mit anderem Bibliothekspersonal. Dann ist es auch sinnvoll, sich nicht einfach auf die eigenen Kontakte zu verlassen. Vielleicht ist das aber in der Schweiz zum Teil ausgeglichen dadurch, dass man in der bibliothekarischen Arbeit eh ständig Kontakt zu Nutzerinnen und Nutzern hat. (Was ich nicht zu 100% unterschreiben würde. Solche Kontakte können auch dazu führen, dass man vieles übersieht, falsch interpretiert etc. Aber es könnte bestimmte Entscheidungen vereinfachen.)
7 Erstaunlicherweise. Ich habe noch keinen Grund dafür gefunden. Gerade in ländlichen Regionen würden sie sich eigentlich anbieten. Es ist auch erstaunlich das, wenn skandinavische Bibliothekswesen in der schweizerischen Bibliotheksliteratur besprochen werden, solche Bücherbusse eigentlich nie mitbeschrieben werden, obwohl sie wichtiger Teil dortiger Bibliothekssysteme sind (und einfacher zu übernehmen sein würden als das z.B. die neuen Bibliotheken aus Aarhus, Helsinki oder so nachgebaut werden könnten).
8 Z.B. wenn ehemalige Lehrpersonen vergleichen können, wie ihr früheres Berufsleben zum jetzigen passt – und nicht einfach vermuten müssen, wie nah oder entfernt es vom Berufsleben von Lehrpersonen ist.