Unternehmen stehen zunehmend vor der Herausforderung, illegales oder unethisches Verhalten frühzeitig zu erkennen – sowohl unternehmensintern als auch in ihrer Lieferkette. Der neue Whistleblowing Report 2025 der FH Graubünden und der EQS Group zeigt: Immer mehr Organisationen setzen auf Melde- und Beschwerdestellen, um Risiken zu mindern, Transparenz zu fördern und Integrität zu stärken.
Unternehmen sind heute stärker als je zuvor gefordert, eine integre und verantwortungsbewusste Unternehmenskultur zu etablieren. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften, sondern um gelebte Verantwortung im täglichen Geschäft. Der Whistleblowing Report 2025 zeigt, wie sich diese Haltung in der Praxis widerspiegelt – und welche Rolle Melde- und Beschwerdestellen dabei spielen, Vertrauen zu schaffen, Risiken zu reduzieren und Missstände systematisch aufzudecken.
Die Studie basiert auf einer Online-Befragung von 2 200 Unternehmen in sieben Ländern – Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Schweiz, Italien, Spanien und den USA. Die nunmehr vierte Ausgabe untersucht erstmals getrennt Meldestellen für interne und Beschwerdestellen für externe Anspruchsgruppen – und liefert so neue Einblicke in deren Wirkung und Nutzen.
Missstände bleiben kein Einzelfall
Knapp 40 % der befragten Unternehmen berichteten 2024 von Missständen im eigenen Betrieb, ein Drittel in der Lieferkette. Besonders betroffen sind grosse und international tätige Unternehmen, die mit komplexen Strukturen, unterschiedlichen Rechtsräumen und einer Vielzahl an Partnern konfrontiert sind. Bei jedem sechsten Fall lag der finanzielle Schaden über 100.000 Euro. Doch neben den materiellen Verlusten stehen vor allem Reputationsrisiken, Vertrauensverluste und rechtliche Konsequenzen im Fokus. Die Ergebnisse machen deutlich, dass Missstände kein Randphänomen mehr sind, sondern ein strategisches Risiko, das Unternehmen proaktiv managen müssen. Melde- und Beschwerdestellen übernehmen dabei eine zentrale Funktion als Frühwarnsystem. Sie helfen, Unregelmässigkeiten rechtzeitig zu erkennen und Gegenmassnahmen einzuleiten, bevor größerer Schaden entsteht.
Melde- und Beschwerdestellen auf dem Vormarsch
77 % der Unternehmen haben mittlerweile mindestens eine dieser Stellen eingerichtet. Während Meldestellen in erster Linie den eigenen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen, werden Beschwerdestellen zunehmend auch externen Zielgruppen wie Kunden oder Zulieferern geöffnet. Der Trend ist eindeutig: Rund 40 % dieser Systeme wurden erst nach 2020 eingeführt – ein klarer Hinweis auf den Einfluss aktueller regulatorischer Entwicklungen wie etwas der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) oder der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD). Diese Richtlinien fördern eine Kultur der Transparenz, Rechenschaftspflicht und ethischen Unternehmensführung, die weit über gesetzliche Mindestanforderungen hinausgeht.
Warum Unternehmen handeln – und warum manche nicht
Zu den Hauptmotiven zur Einführung von Melde- bzw. Beschwerdestellen zählen die frühzeitige Aufdeckung von Missständen, die Förderung von Transparenz und das Ziel, ein integres Unternehmensimage zu stärken. Unternehmen, die auf solche Systeme verzichten, häufig auf eine bereits etablierte Unternehmenskultur oder fehlende gesetzliche Vorgaben.
Vertrauen als Erfolgsfaktor
Ein zentraler Erfolgsfaktor für funktionierende Melde- und Beschwerdesysteme ist das Vertrauen der Hinweisgebenden. Nur wenn Mitarbeitende, Lieferanten oder andere Anspruchsgruppen sicher sein können, dass ihre Hinweise ernst genommen, vertraulich behandelt und ohne negative Konsequenzen verarbeitet werden, nutzen sie diese Kanäle auch aktiv. Unternehmen, die gezielt auf diese Faktoren achten, schaffen eine Kultur des Hinschauens, in der Fehlverhalten nicht vertuscht, sondern offen angesprochen wird. Dies setzt allerdings voraus, dass Melde- und Beschwerdesysteme zugänglich, benutzerfreundlich und unabhängig ausgestaltet sind – idealerweise mit der Möglichkeit zur anonymen Meldung.
Aus der Studie geht hervor, dass 62 % der Unternehmen mit Meldestelle anonyme Hinweise zulassen, während dieser Anteil bei Beschwerdestellen mit 42 % geringer ausfällt. Die Befürchtung, dass anonyme Meldungen häufiger missbräuchlich genutzt werden, wird durch die Studie jedoch widerlegt. Lediglich 8 % der internen Meldungen und 12 % der externen Beschwerden wurden als missbräuchlich eingestuft. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass anonyme Meldemöglichkeiten kein Risiko, sondern vielmehr ein entscheidender Hebel für eine offene und vertrauensvolle Hinweisgeberkultur sind. Sie senken Hemmschwellen, fördern die Bereitschaft zur Mitteilung relevanter Informationen und tragen damit wesentlich zur Aufdeckung von Missständen bei.
Messbarer Nutzen
Zwei Drittel der Unternehmen erhielten im Jahr 2024 Meldungen bzw. Beschwerden. Bei den Meldestellen gingen durchschnittlich 44 Meldungen ein, bei den Beschwerdestellen lag der Mittelwert mit 49 Beschwerden leicht höher. 59 % der internen Meldungen und 62 % der externen Beschwerden erwiesen sich zudem als relevant – ein starkes Indiz für die Wirksamkeit solcher Systeme. In fast jedem zweiten Unternehmen konnten dank der Melde- oder Beschwerdestellen mehr als zwei Drittel des finanziellen Gesamtschadens aufgedeckt werden.
Schlüssel zum Erfolg
Der Whistleblowing Report 2025 zeigt: Eine offene Melde- und Beschwerdekultur sollte nicht als Kostenfaktor, sondern als strategischer Erfolgsfaktor verstanden werden. Unternehmen, die aktiv zuhören und Missstände konsequent aufarbeiten, stärken nicht nur ihre Compliance, sondern auch das Vertrauen ihrer Mitarbeitenden, Kunden und Partner.
- Hinweis: Der ausführlichere Bericht kann auf der Projektwebseite heruntergeladen werden.
Hintergrund des Projekts:
Ein Team von Forschenden des Schweizerischen Instituts für Entrepreneurship an der Fachhochschule Graubünden (FHGR) befasst sich in einem von der Innosuisse finanzierten Projekt «Beschwerdemanagement in internationalen Lieferketten» mit der Frage, wie Unternehmen wirksame Beschwerdemechanismen entlang globaler Wertschöpfungsketten gestalten können, um ESG (Environmental Social Governance)-Verstöße frühzeitig zu erkennen, systematisch zu bearbeiten und somit Risiken entlang der Lieferkette zu minimieren. Gemeinsam mit mehreren Wirtschaftspartnern werden im Rahmen des Forschungsprojekts bestehende Praktiken, Herausforderungen und Erfolgsfaktoren im Beschwerdemanagement identifiziert und es wird analysiert, welche organisatorischen, technischen und interkulturellen Voraussetzungen notwendig sind, um ein effektives, vertrauenswürdiges und zugängliches Beschwerdesystem zu etablieren.
Jeanine Bretti Rainalter ist Wissenschaftliche Projektleiterin am Schweizerischen Institut für Entrepreneurship. In Forschung und Beratung beschäftigt sie sich mit der sozialen Verantwortung von Unternehmen und untersucht dabei die Rolle von Unternehmen bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen.