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Warum die Lei­den­schaft für den ar­chi­tek­to­ni­schen Entwurf Leiden schafft – und gleich­zei­tig ein Feuer ent­facht

Mit Methodik Begeisterung und Selbstvertrauen wecken und gleichzeitig Corona trotzen.

Das Besondere an der Arbeit der Architektinnen und Architekten ist der Weg vom Wort zum Gegenstand. Am Anfang sind funktionelle Anforderungen, gestalterische Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen – am Ende steht ein dreidimensionales Gebilde: das Bauwerk. Dieser Weg ist nicht einfach ein genialer Wurf, eine geheimnisvolle Meisterleistung – sondern entwerfen und konstruieren sind eine Folge von Schritten, die bezeichnet und erklärt werden können und daher lehr- und lernbar sind.

Bernhard Hoesli, ETH Zürich

Schon vor vielen Jahren hat der längst verstorbene Professor Bernhard Hoesli an der ETH Zürich in seinem berühmten Grundkurs eine Aussage gemacht, die auch heute – gut 60 Jahre später – das Leitmotiv im städtebaulichen Entwurfsunterricht Gültigkeit hat. An der Fachhochschule Graubünden findet dieses Fach im 5. Semesters des Architekturstudiums statt.

Für die Dozierenden geht es also insbesondere darum, die einzelnen Aspekte und Phasen einer Entwurfsarbeit, d.h. «des Umsetzungsvorganges vom Gedanken zur Form», zum eigentlichen Unterrichtsgegenstand zu machen. Wie kann eine architektonische Idee entstehen und wie kann sie intelligent umgesetzt werden?

Richtig herausfordernd wird dieser Prozess, wenn die Entwurfsarbeit wie im 5. Semester WS 20/21 nicht erfunden, sondern der Realität entspringt – das heisst, es gibt eine konkrete Bauherrschaft und ein konkretes, 14'100 Quadratmeter grosses Grundstück mitten in einer der attraktivsten Lage des Bündner Rheintals: Oberhalb von Weinbergen mit fantastischer Aussicht ins Tal.

Entwurfsentwicklung mit Höhenfügen und Abstürzen

Für das didaktische Vorgehen bei dieser konkreten Entwurfsarbeit wurde für einmal nicht die übliche «Tischkritik» - ein Zwiegespräch mit den Dozierenden - gewählt, sondern ein Jury-Prinzip: Gruppen von Studierenden «jurieren» und beurteilen unter Anleitung der Dozierenden gegenseitig die Arbeit ihrer Mitstudierenden. Für einmal sitzen die Studierenden in der Expertenrunde des Architekturwettbewerbs und befinden in wohlüberlegten Worten über die Chancen und Defizite der vorgeschlagenen Entwürfe.

Das führte zu verblüffenden Lerneffekten: Während die Jury, also die Kolleginnen und Kollegen, im offenen Dialog über ein Projekt urteilten, versuchte der mit striktem Sprechverbot belegte Verfasser augenrollend zu intervenieren und missverstandene Sachverhalte klarzustellen. Es wurde für alle offensichtlich – oft amüsant, manchmal schmerzhaft - wo Mängel in der Darstellung, der Lesbarkeit der Planausschnitte oder der Nachvollziehbarkeit des Projektes, respektive der Projektidee lagen.

Geschahen diese «Kritiken» anfänglich zurückhaltend und unsicher ob der eigenen Kompetenz, fassten die Studierenden-Jurymitglieder im Laufe des Semesters zunehmend Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit und erkannten die enorme Wichtigkeit des architektonischen Diskurses sowie die Unumgänglichkeit eines andauernden iterativen Entwurf-Vorgehens. Keine Entwurfsidee war per se richtig oder falsch, aber ein gewählter Ansatz musste in Bezug auf den Ort und das Quartier nachvollziehbar erläutert werden können und geradlinig und konsequent weiterentwickelt und bis hin zu Grundrissen und Materialisierung schlüssig zur Ausgangsabsicht ausgearbeitet werden.

Der geschilderte kreative Prozess ist so begeisternd wie anstrengend. Was dem Projektverfasser als klar erscheint, stellt sich oft als unverständlich oder nur schwer nachvollziehbar für die Jury dar und bedarf einer erneuten Überarbeitung. Argumentieren, einfach und verständlich erläutern sowie die Begeisterung für das eigene Projekt auch beim Vis à vis wecken zu können, bedarf der Übung. Nicht weniger Training benötigt es, Kritik annehmen und daraus eine konstruktive Weiterentwicklung der eigenen Idee herauszufiltern.

Mit Feuereifer entwerfen und gleich darauf wieder zweifelnd leiden - liegen im Entwurfsunterricht nahe beieinander.

Und dann kam Covid-19 wieder. Plötzlich fällt die wichtigste Ebene, der persönliche Austausch, die Diskussionen am Modell und die Projektpräsentationen vor der Kommilitonen-Jury, weg.

Wie oft beobachtet, entstehen aus der Problematik heraus neue Lösungen, neue Vorgehensweisen und unerwartete positive Effekte: Es lag fast auf der Hand, das konstant geübte, kurze und prägnante Formulieren einer Entwurfsidee auf einem persönlichen, auf 2 Minuten limitierten Video festzuhalten. Gänzlich ungeplant und in der Tragweite völlig unvorhergesehen, öffnete sich damit der Sprung in die Welt der neuen Medien. Da das physische Modell weit entfernt in den Räumen der Fachhochschule stand, wurde die 3D-Darstellung zwingend. Fast logischerweise dauerte es nicht lange, bis erste Studierende animierte Kurzfilme von Spaziergängen durch das virtuelle Projekt präsentierten und damit ihre gesprochenen Erläuterungsvideos attraktiv ergänzten. Mit einer ebenso erstaunlichen wie begeisternden Eigendynamik unter den Studierenden liessen Folgeprojekte nicht lange auf sich warten. Die vielfältigen Möglichkeiten, die Projekt-Präsentationsvideos mit den 3D-Simulationfilmen untereinander auszutauschen, als Abgaben an Dozierende und zu Händen der Bauherrschaft zu versenden, auf YouTube zu stellen oder in eine eigene Website einzubauen, vermochten den Frust der weggefallenen Atelier-Stimmung im Unterricht zumindest teilweise gut zu kompensieren.

Der mit der neuen Unterrichtsform und dem neuen Abgabeformat zwangsläufig resultierende intensive Wissensaustausch unter den Studierenden hat erstaunlicherweise einen ganz unerwarteten Zusammenhalt in der Klasse generiert. In einer für alle noch nie dagewesenen Pandemie-Situation mit völlig neuen Anforderungen war gegenseitige Hilfe unumgänglich und hat vermutlich jedem einzelnen geholfen, der Isolation zu entgegnen. Das Lernen neuer Programme war kein notwendiges Übel, sondern Mittel zum Zweck und ein motivierender Ausbruch aus der Einschränkung.

Die am Ende des Semesters präsentierten Projektarbeiten bewegten sich fast ausnahmslos auf sehr hohem Niveau. Angesichts von Covid-19 hätte wohl jeder das Gegenteil erwartet.

Was ist das Fazit?

Brauchen wir also zukünftig unser Entwurfs-Atelier gar nicht mehr?
Wagen wir einen kritischen Rückblick:

Dass eine Ausnahmesituation auch positive Ausnahme-Resultate hervorbringen kann, ist angesichts der allgemeinen Corona-Müdigkeit eine erfreuliche und vielleicht sogar motivierende Feststellung. Es täuscht aber nicht darüber hinweg, dass uns das Fehlen so banaler Dinge wie der gemeinsame Match am «Tschütteli-Chaschte», der Geruch nach Leim und Farbe der uns in der Modellwerkstatt begrüsst, oder einfach nur das Gelächter am Kafi-Tisch mehr zusetzt, als wir je gedacht hätten.

Vive l’Atelier!   

Sandra Bühler ist Dozentin für Architektur und Ortsbildentwicklung an der Fachhochschule Graubünden.

Christian Wagner ist als Professor für Architektur tätig und leitet den Bereich Ortsbildentwicklung und Siedlungsplanung am Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR).

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