Online-Meeting mit Svenja Nyffeler. Im Hintergrund hängt ihr Velo an der Wand. Im Keller würden zu viele Velos gestohlen, meint Svenja. Für ihre Bachelor-Arbeit ist Multimedia Production-Alumna Svenja drei Wochen mit dem Gravelbike durch Marokko gereist. Daraus ist der Film «Féminin Regard» entstanden. Warum sie nie mit LKW-Fahrern Melone essen würde und warum ein Mann besser in eine Kultur eintauchen kann als eine Frau, erzählt sie uns im Interview mit Kathrin Ott, Leiterin FHGR-Alumni.
Bevor wir uns ins Marokko-Abenteuer stürzen, erzähl uns etwas von dir?
Ich bin gelernte Polygrafin und habe nach der Lehre in einer Werbeagentur gearbeitet. Die Zeit dort war stressig, deshalb habe ich meinen Job gekündigt und eine dreijährige Reise geplant. Geplanter Reisestart: 14. März 2020. Der Corona-Lockdown hat meine Pläne durchkreuzt. So habe ich das Studium vorgezogen. Als Grafikdesignerin und Hobbyfilmerin hat mich Multimedia Production sofort angesprochen.
Auf nach Marokko. Du bist drei Wochen mit dem Bike durch Marokko gefahren. 1'000 Kilometer, 10'000 Höhenmeter. Als Frau. Allein. Was sind deine ersten Gedanken, wenn du das hörst?
Huere geil! (Anm.: im breiten Bernerdialekt). Abenteuer! Hier gibt es etwas zu erleben. Aber auch «Herausforderung». Ich habe an mir gezweifelt, mir öfter überlegt, ob es das Richtige ist. Ich habe alles selbst ausgesucht: die Strecke, der Zeitpunkt, die Distanzen. Was ich nicht ausgesucht habe: Ich habe es als Frau machen müssen. Natürlich hätte ich eine Begleitung mitnehmen können, aber ich hatte niemanden im Umfeld, der solche Touren unternimmt.
Das EDA schreibt in seiner Reiseempfehlungen für Marokko folgendes: «Frauen wird empfohlen, sich in Gruppen zu bewegen, sich zurückhaltend zu verhalten und wenig besuchte […] Strände, Parks etc. zu meiden.» Warum hast du dich trotz dieser Warnung für Marokko entschieden?
Wenn sich Frauen nur da bewegen, wo man absolut sicher ist, dann bleiben viele Orte für uns Frauen tabu. Also begann ich, mich intensiv vorzubereiten. Ich suchte im Voraus den Kontakt zu Einheimischen und baute mir ein zuverlässiges Notfallnetzwerk auf. Sollte etwas passieren, wussten sie genau, was zu tun wäre. Das Velo ist das falsche Reisemittel, wenn man sicher unterwegs sein möchte. Man ist bereits ausgesetzt, hat keine schützende Kabine. Ich war immer sehr wachsam. Z. B. habe ich mein Zelt erst in der Dunkelheit aufgebaut, damit niemand sieht, dass eine Frau allein im Zelt übernachtet.
Du hast dich gut vorbereitet. Was – denkst du – hast du in deinen Vorbereitungen anders gemacht, als wenn ein Mann auf so eine Reise geht?
Herausforderungen wie die Wasseraufbereitung oder die Verpflegung sind geschlechtsunabhängig. Es kommen Themen hinzu, die für Frauen wichtiger sind. Häufig gibt es kein Internet. Also hatte ich eine Excel-Tabelle mit einer genauen Planung erstellt. Ich will ganz genau wissen, was um mich herum ist: Wo übernachte ich, wo kaufe ich ein, wo gibt es Wasser. Ich habe mich gefragt, wie ich mich als Frau in abgelegenen Orten präsentieren möchte. Lange Hosen waren für mich Pflicht. Ein weiteres Frauenthema sind Monatsbeschwerden. Ich habe Endometriose und liege jeweils flach. Dann brauche ich eine gute und sichere Unterkunft und Schmerztabletten.
Wo siehst du noch Unterschiede zwischen reisenden Männern und Frauen?
Es gibt konkrete Beispiele. In Marokko werden Männer oft von LKW-Fahrern zu Melone und Tee eingeladen. Als Frau werde ich oft von LKWs von der Strasse gedrängt oder es wird mir etwas nachgerufen. Als auch ich einmal eingeladen wurde, habe ich eine unangenehme Situation erlebt. Seither habe ich in Marokko keinem Mann mehr vertraut.
Du warst auf der ganzen Welt mit dem Velo, zu Fuss oder per Autostopp unterwegs. Wie unterscheiden sich die Länder aus Sicht einer allein reisenden Frau?
Bis zu einem gewissen Grad gibt es schon Unterschiede. In Marokko ist die Geschlechtertrennung ausgeprägter. Frauen sind seltener anzutreffen und es ist als Frau schwieriger, sich zu beweisen. Niemand glaubt mir dort, dass ich ein Velo flicken kann. Im Kaukasus ist Autostopp ein gängiges Fortbewegungsmittel, auch für Frauen. Deshalb ist das dort kein grosses Problem. In der Ukraine sind die Menschen zurückhaltender. Aber: Als Frau ist man in allen Ländern Grenzüberschreitungen ausgesetzt. Auch in der Schweiz.
35 Grad, lange gerade Schotterstrassen durchs Gebirge. Für mich wäre das mehr eine Qual als Hochgefühl.
Wenn ich «All inclusive» höre, stehen mir die Haare zu Berge. Und doch: Es ist eine Herausforderung, körperlich und mental. Lange Geraden können zermürbend sein. Dann rede ich mit mir selbst, höre einen Podcast. Aber durch diese langen Strassen bin ich in wunderschöne Gebiete gekommen, in die man normalerweise nicht so einfach kommt. Dann gibt es dieses Hochgefühl – ein langer heisser Tag, der mit einer kalten Cola abschliesst. Je intensiver und rauer die Umgebung, umso verlockender ist es, ihr ausgesetzt zu sein.
Du hast dich oft unwohl gefühlt. Männer haben am Strassenrand gestoppt und auf dich gewartet. Weshalb hast du die Reise trotz schlechten Gefühlen bis zum Schluss durchgezogen?
Wenn ich aufgegeben hätte, hätte ich der Angst zu viel Gewicht gegeben. Also fragte ich mich: Wie kann ich damit umgehen, wie vermeide ich die Angst? Im Verlauf der Reise verhielt ich mich anders, die Angst blieb aber.
Was war das absolute Highlight deiner Reise?
Mein Notfallnetzwerk. Ein Kontakt sah, dass meine Route durch sein Heimatdorf führte. Seine Familie lud mich ein. Es war Ramadan, also ass ich vorher extra etwas. Die Familie kochte aber nur für mich und so ass ich den ganzen Nachmittag. Himmlisch.
Du bist für deine Bachelorarbeit nach Marokko gereist und hast da deinen Film aufgenommen und anschliessend geschnitten. Wie hat dir das Studium dabei geholfen?
Im Studium haben wir spezifische Rollen eingenommen: Filmerin, Moderator, Drehbuchschreiberin. Auf meiner Reise war ich eine One-Woman-Show. Durch das Studium weiss ich, wie man eine Story aufbaut, wie gehe ich die Geschichte an, wie kann ich ein bisschen «bschisse», damit es runder wird. Solche Themen haben mir sehr geholfen.
Der Film heisst «Féminin Regard» – wann war dir klar, was der Fokus deines Films sein sollte?
Ich habe mich bei der Bachelorarbeit mit dem Thema «Frauen, die im 19. und 20. Jahrhundert gereist sind» auseinandergesetzt. Ich wollte herausfinden, was es heute bedeutet, als Frau zu reisen.
Du bist aktuell wieder auf einer neuen Reise. Dieses Mal mit deinem Partner. Was ist geplant und wo können wir deine Reise mitverfolgen?
Wir sind in Bern gestartet, fahren Richtung Osten und werden mindestens ein Jahr unterwegs sein. Mehr wissen wir noch nicht. Verfolgen könnt ihr die Reise auf Instagram @sveniny.
Hier geht es zum YouTube-Video von Svenja Nyffeler:
Svenja Nyffeler hat Multimedia Production an der Fachhochschule Graubünden studiert. Kathrin Ott ist Leiterin der FHGR-Alumni an der Fachhochschule Graubünden.